Der
Schafbock Kasimir
Das ist die Geschichte
vom Schafbock Kasimir und dem Metzgermeister, Herrn Bock.
Es ist eine wahre Geschichte,
die sich genauso zugetragen hat in einem kleinen Dorf auf
dem Lande. Nicht einmal die Namen sind erfunden; alles hat
sich genau so ereignet.
Ich lebte einmal auf dem Land
in einem kleinen Häuschen mitten in einem großen
Obstgarten, zusammen mit vielen Tieren - Schafe, Hunde, Katzen
und viele zahme Vögel. Alle Tiere waren befreundet und
achteten einander.
Der Schäfer und sein
angriffslustiger Schafbock
Ein Schäfer, der oft
an dem Obstgarten mit seiner Schafherde vorbeizog, hatte einen,
wie er meinte, bösen und angriffslustigen Schafbock,
der ständig auf ihn losging. Da dem Schäfer das
Zusammenleben der Tiere in dem Garten gefiel, läutete
er eines Tages an der Tür und fragte, ob er für
eine Zeit seinen bösen Schafbock in den Garten bringen
könne, weil er ihn in der Herde nicht mehr halten könne.
Ich war einverstanden.
Als der Schäfer den Schafbock
brachte, schlug er ihn. Er sagte zu mir, dass ich ab jetzt
immer eine spitze Heugabel dabeihaben sollte, um die Angriffe
des bösen Tieres abzuwehren.
Kasimir wird glücklich
so lebte Kasimir glücklich
mit allen zusammen
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Am ersten Tag, den der Schafbock
in dem Garten mit den vielen Tieren verbrachte, fing er gleich
an, auf alle loszugehen. Er war ziemlich groß, größer
als die Schäferhunde, die auch im Garten wohnten. Er
versuchte jeden - Mensch oder Tier - anzugreifen, senkte seinen
Kopf und zeigte allen - obwohl er eine hörnerlose Rasse
war - seine dicke Stirn.
Doch als ihn niemand deswegen
anschrie oder schlug und die Tiere ihn einfach nur ganz gespannt
beobachteten, ließ er seine Angriffe bereits am ersten
Tag allmählich bleiben und fing an, neugierig Mensch
und Tier zu beschnuppern. Und schon bald schloss er Freundschaft.
Nach einer Woche begannen
die Kinder, die die Tiere regelmäßig besuchten
und mit ihnen spielten, dem Schafbock kleine Kunststücke
beizubringen, z. B. einen Apfel zu pflücken und herzubringen.
Und sie gaben ihm den Namen Kasimir.
So war er schon bald ein Mitglied
in der Tierfamilie, und auch der Mensch wurde ihm zum Freund.
Kasimir ließ es sich nicht nehmen, gemeinsam mit den
drei großen Schäferhunden den Garten, die Tiere
und auch mich zu bewachen. Wenn jemand an der Gartentüre
war, rannte Kasimir, immer einen Kopf größer als
die Schäferhunde, zum Gartentor, und wenn er mit dem
Besuch einverstanden war, ging er zur Seite. War er es nicht,
dann stellte er sich in den Weg und stampfte mit dem Fuß
auf. Doch das passierte selten.
So lebte Kasimir glücklich
mit allen zusammen. Der Schäfer, der ab und zu vorbeikam,
war überwältigt, dass sich das böse Tier, das
jetzt Kasimir hieß, so verändert hatte und sogar
Kunststücke machen konnte, äpfel pflücken und
bringen, auf den Hinterbeinen laufen und auf den Zuruf "Pass
auf" mit den Hunden den Garten bewachte.
Kasimir beim Metzger
Leider hatte Kasimir nur einen
Sommer lang eine so schöne Zeit. Denn als er groß
genug war, verkaufte der Schäfer Kasimir an den pensionierten
Metzgermeister, Herrn Bock. Der Metzgermeister hatte schon
lange einen Blick auf den prachtvollen Schafbock geworfen
und in Gedanken schon seine Keulen abgewogen. Deswegen schlugen
auch alle Versuche, Kasimir freizukaufen, fehl. Dem Metzgermeister
ging es dabei weniger ums Geld als um das Erlebnis, als Pensionär
noch einmal seine Arbeit zu verrichten, so wie er es in seinem
Beruf oft getan hatte. Es war also nichts zu machen.
An dem Tag, als Metzgermeister
Bock den Schafbock Kasimir zum Schlachten abholen wollte,
kam er in den Garten mit dicken Stricken, um Kasimir zu fesseln.
Und es war seit langem das erste Mal, dass Kasimir mit den
Füßen stampfte, seinen Kopf senkte und mit den
Augen funkelte. Ich hatte vorher mit ihm gesprochen, so schwer
es mir auch fiel und so sehr ich meine Tränen unterdrücken
musste: "Kasimir, es tut mir so leid, aber ich konnte
es nicht verhindern, dass du von hier weggeholt wirst, aber
ich werde mit dir gehen und dich begleiten, dass du keine
Angst haben musst."
Schafbock Kasimir wird gefüttert
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Die Kinder gaben ihm den Namen
Kasimir.
Der Metzger wollte ihn einfangen
und mit den Stricken fesseln. Da sah ich Herrn Bock in die
Augen und sagte: "Legen Sie die Stricke zur Seite. Wenn
ich Kasimir rufe, wird er mit mir gehen." So war es dann
auch. Da wir schon oft gemeinsam in meinem Kastenwagen Heu
holen gefahren waren, stieg er freiwillig ins Auto, obwohl
er spürte, dass dies eine andere Fahrt war, denn er roch
den Metzger. Als dieser dann auf der Fahrt anfing, über
Kasimirs dicke Keulen zu sprechen und sich auf die eigenen
Schenkel zu klatschen, bat ich ihn: "Kasimir ist mir
sehr ans Herz gewachsen. Er ist mein Freund, bitte würden
Sie Respekt haben und vor meinem Freund nicht über derartige
Dinge sprechen."
Als wir dann an dem grausamen
Ziel angekommen waren, mussten wir noch über eine kleine
Dorfwiese bis zum Schlachtplatz. Der Metzger wollte Kasimir
wieder mit seinen dicken Stricken fesseln, doch ich hielt
ihn zurück: "Kasimir wird mit mir gehen, und er
wird ohne Fesseln gehen!" In den Augen von Kasimir war
Angst, und ich umarmte ihn und drückte ihn ganz fest
und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Nach dem kleinen Gespräch
mit Kasimir stieg er gemeinsam mit mir aus dem Auto.
Kasimir's Ende
Er roch jetzt das Blut vom
Schlachtplatz, und das große und prachtvolle Tier drückte
sich eng an mich. Ich musste mich furchtbar zusammenreißen,
dass ich nicht einfach losheulte oder brüllte. So gingen
wir Seite an Seite, und der Metzger staunte völlig, als
er sah, wie wir beide miteinander sprachen und gingen. Als
wir dann in dem kleinen Schlachthaus standen, war der Metzgermeister,
Herr Bock, ganz aufgeregt. Er musste Kasimir jetzt umlegen
auf den Boden, dass er ihn schlachten konnte und wollte ihm
jetzt endlich die Füße fesseln.
Und wieder sagte ich zu ihm:
"Kasimir wird nicht gefesselt, er wird sich selbst hinlegen".
Der Augenkontakt zu Kasimir ist nicht mehr abgebrochen, und
mit Tränen in den Augen bat ich das wunderschöne
Tier, dass es sich hinlegen möge. Und Kasimir legte sich
vor dem Metzger, der sein Messer in der Hand hielt, auf den
Boden. Ich kniete mich zu ihm und hielt ihn ganz fest in meinen
Armen. Ich holte ein paar rote Lieblingsäpfel von Kasimir
aus der Tasche und gab sie ihm zum Abschied, obwohl der Metzger
schimpfte, dass er die äpfel eh gleich wieder "rausräumen
muss".
Die Demut dieses Tieres hat
mich völlig überwältigt. Es schloss in meinen
Armen vor dem umherfuchtelnden Metzger seine Augen, und ich
hielt Kasimir fest, bis die grausame Prozedur vorbei war.
Jetzt konnte ich mich nicht mehr halten und heulte los, den
toten Kasimir in den Armen.
Doch genau in dem Moment,
als ich so traurig und verzweifelt war und der blutverschmierte
Körper des prachtvollen Tieres regungslos am Boden lag
und der Metzger seine Messer wetzte, da hatte ich in mir das
Gefühl, als stupste mich jemand mit seiner Schnauze und
sagt: "Komm, sei nicht traurig, wir gehen hier jetzt
gemeinsam wieder raus." Ich stand auf, weg von diesem
grausamen Platz. Und als ich über die kleine Wiese ging,
hatte ich das Gefühl, dass Kasimir unsichtbar, aber spürbar
ein Stück neben mir lief.
Tiere haben eine Seele
Und genau in diesem Moment
sah ich im Talgrund gegenüber den Wiesen an einem kleinen
Bach einen wunderschönen Schafbock mitten im hohen Gras
stehen. Weit und breit war weder ein Schäfer noch eine
Herde zu sehen. Er wandte mir den Kopf zu und meckerte ganz
laut, so als ob Kasimir mir durch seinen sichtbaren Freund
ein Zeichen geben wollte.
Ein paar Tage später
war der Metzger bei mir und sagte, dass er so etwas noch nie
erlebt habe. Und er hatte vor Rührung Tränen in
den Augen und fragte mich - was ihn vorher noch nie interessiert
habe - ob ich glaube, dass Tiere eine Seele haben und ob es
wohl ein Leben nach dem Tod gebe und noch vieles andere. Damals
wusste ich noch nichts vom Inneren Weg, und ich bin sehr dankbar,
dass man dort vieles erfährt über das Verhalten
von Mensch und Tier, wie man lernen kann, das Tier als seinen
Freund zu achten.
Auch heute begegne ich immer
wieder dem Leid der Tiere. So höre ich in mir noch das
verzweifelte Blöken von kleinen Lämmern in einem
Tiertransport aus einem europäischen Land, hungrig und
durstig, abgestellt auf einem Parkplatz, weil der Fahrer Brotzeit
machte, aß und trank.
Es war ein riesiger LKW mit
Hänger. In drei Stockwerken auf engstem Raum zusammengepfercht
standen hunderte von gleich großen weißen kleinen
Lämmern - ohne Wasser, ohne Weide. Ich stand so verzweifelt
an diesem LKW und versuchte, die Tiere zu beruhigen. Sie fingen
an zu schnuppern und neugierig zu gucken. Ob sie jemals wieder
eine Weide mit Gras und frischen Blumen schnuppern können,
Vogelgezwitscher hören oder das beruhigende Meckern der
Mutter - oder ob sie mit geschundenen kleinen Körpern
über die gekachelten Schlachtrampen getrieben werden,
den dumpfen Blutgeruch wittern, die panischen Angstschreie
ihrer Artgenossen hören - das entscheiden wir; das liegt
letztlich an jedem von uns.
Ich habe schon viele mutterlose
oder kranke Lämmer aus der Herde des Schäfers mit
der Flasche aufgezogen und gesund gepflegt, und ich habe die
Freude der Tiere erlebt, wie sie auf der Weide herumtollten.
Deshalb habe ich davon Abstand genommen, auch nur einem Tier
zuzumuten, all das durchzumachen, um dann bei mir als Braten
mit Thymian, Rosmarin und Knoblauch gespickt und gewürzt
auf dem Teller zu landen. Wer schon einmal zugeschaut hat,
wie ein neugieriges Lämmlein an einem wohlriechenden
Zweig herumknabbert, der versteht vielleicht, warum ich es
nicht mit einem wohlriechenden Zweig gewürzt im Teller
wieder finden möchte.
Ich verurteile ganz sicher
niemanden und rümpfe auch nicht meine Nase, wenn sich
jemand für eine würzige Fleischspeise entscheidet,
denn ich habe sie auch gerne mal gegessen. Ich wollte nur
einmal aus meiner Erfahrung erzählen, warum ich lieber
das Lämmlein oder den Schafbock Kasimir auf der Wiese
herumtollen sehe. Sie sind meine Freunde geworden, und Freunde
verspeist man nicht - oder?
Vom
Gnadenhof: "Heimat für Tiere" Link: www.heimat-fuer-tiere.de
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