Wir
fuhren also mit dem Bus nach Cinarcik. Kilometer lang zogen sich
auf unserem Spaziergang unfertige Rohbauten entlang. Wir gingen
am Strand entlang bis ans Ende von Cinarcik wo die Straße
verzweigte. Geradeaus führte sie am Strand entlang hinter einer
Bergnase weiter und nach links bog sie in Richtung Yesilköy
ab. Dort folgten wir der Straße noch ein Stückchen. Ein
unbarmherziger, eisiger Sturm zerfetzte alles, was ihm in die Quere
kam. Fensterläden klapperten, Türen quietschten und fielen
krachend auf und zu. Das Meer war aufgepeitscht und rauh von den
eisigen Winterstürme. Der Ort war menschenleer. Ich war von
dieser einsamen, verlassenen und fast trostlos wirkenden Gegend
angetan. Und so fragte Kemal in einem bewohnten 3-stöckigen
Haus an, ob eine Wohnung zu vermieten sei.
Bulut-Apartment
- Das Wolken-Apartment
Wenig später
zogen wir ins oberste Stockwerk ein. Das Haus lag ca. 3 Kilometer
von der Bushaltestelle und vom Fährenhafen nach Istanbul entfernt. |
|
|
Über
dem Eingang stand zu lesen: Bulut-Apartment. Bulut heißt Wolke.
In diesem Haus erlebte ich eine wundervolle Zeit während der
Sturm draussen tobte. Es war ein wunderbares Gefühl des Glücklichseins.
Glück in mir und aus mir heraus. Ich fühlte mich manchmal
wirklich, als würde ich auf Wolken gehen... In der Idylle dieses
Städtchens erlebte ich eine herrliche Unbeschwertheit und Leichtigkeit
- ich erlebte meine ''zweite Kindheit''.
Auf dem
Stühlchen vor dem Haus pflegte das betagte Oberhaupt der Familie
sehr gerne Pfeife schmauchend auf dem Stühlchen vor dem Haus
zu sitzen. Sie waren die Vermieter unserer Wohnung im obersten Stockwerk.
Sie hatte 5 große Zimmer. Ich war überglücklich.
Das 5. Zimmer war mit metallenen Bettgestellen vollgestellt, in
der Ecke stapelten sich Bettzeug und Matrazen. Diese stellten wir
uns alle in einem kleineren Zimmer zu einer Bettwiese zusammen.
Wir hatten in der ganzen Wohnung nur einen kleinen Holzofen im Wohnzimmer
stehen, der die Wärme nicht halten konnte, weil er keine Schamottabdichtung
hatte. Da der Winter hier mit heftigen und eisigen Stürmen
sehr kalt war, lag ich oft in die bauschigen Daunendecken geschmiegt
und lauschte dem Orgeln des Windes. In der Nähe klapperten
die Fenster eines unfertigen Rohbaus. Manchmal schien es, als wollte
der pfeifende, eisige Bruder Wind das Haus abdecken. Dann lauschte
ich stundenlang im Radio, das ich aus Deutschland mitgebracht hatte
- der herrlichen Musik des Jazzers Pat Metheny.- und war glücklich.
Oft ging
ich ein Stück der Straße in Richtung Yesilköy und
zweigte dann in die Olivengärten oder auf Feldwege die Hänge
hinauf ab. Überall gab es wunderbare Dinge auf dem Weg zu sehen,
duftende Blumen und wilde Kräuter, Esel, die friedlich auf
blumenübersähten Wiesen grasten, uralte Olivenbäume,
die ihren herrlichen Frieden verströmten. Es gab Kühe,
die ohne Zaun und Gatter mit ihren Kälbern hier spazieren gingen.
Manchmal war auch ein Stier dabei, dann mußte man vorsichtig
sein. Einmal konnte ich mich gerade noch hinter einen Sandhaufen
retten. Der Stier schnaubte und stampfte. Staub wirbelte auf, dass
ich kaum noch etwas sehen konnte. Und dann kam er gerannt - und
ich hechtete hinter den Sandberg. Der Stier rammte seine Hörner
hinein und ich suchte in Windeseile das Weite...
Wir hatten kaum Geld und so sammelte ich Kräuter: Es gab starke
natürlich gewachsene Nane-Pfefferminze hier, Brombeer- und
Himbeerbüsche. Von ihnen sammelte ich die Blätter an den
Spitzen, trocknete sie und bereitete Tee davon. Aus den Rankenspitzen
machte ich zusammen mit den Kräutern, Gänseblümchenblättern
und -Blüten, jungem Löwenzahn ein paar Kartoffeln und
Olivenöl vom Markt herrliche Salate. . Selbst Kemal war begeistert.
Er wunderte sich immer darüber, welche Dinge sich aus den Geschenken
der Natur zaubern liessen. Manchmal bekamen wir von Bauern Frühlingszwiebeln
geschenkt, die sich gut für ein paar Mahlzeiten eigneten.
Zwei mal kamen Zigeunerfamilien mit ihren Maultieren und Pferden
hier an. Sie bauten sich hinter dem Haus aus Weiden Tunnelartige
Gerüste, legten Plastikplanen darauf und darüber bunte
Stoffbahnen. Ich schaute ihnen jedesmal dabei zu und konnte eine
Menge dazu lernen. Ihre Pferde weideten vor den Zelten auf der Wiese.
Es regnete im Winter nicht selten. Die Zigeuner zogen sich in ihre
Zelte zurück. Es qualmte aus einem Ofenrohr heraus, das aus
dem Zelt stakte. Sie wuschen ihre Wäsche im freien in einer
großen Schüssel und hängten die Wäsche über
die Büsche oder legten sie direkt auf die Wiese zum trocknen.
Ihre Pferde standen tagelang fast regungslos im Regen. Und wenn
die Sonne ihre Strahlen ausschickte, wälzten sie sich vor Freude
wihernd auf dem Boden. Es dauerte nicht lange und ich schloss Freundschaft
mit ihnen.
|
Spaziergang
nach Armutlu
Einmal hatte ich mich beim Spaziergang zusammen mit Baris (damals
schlummerte er noch in meinem Bauch) vom Bulutapartment bis nach
Armutlu gewagt - einem Dorf, wo alles wirkte, als hätte die
Zeit hier vergessen vorbeizuschauen. Der eisige Sturm, der um diese
Jahreszeit herrscht, schnitt mir in die Ohren und die Stimmung war
sehr abenteuerlich. Mir war ein wenig bang, hier alleine so weit
vorzudringen. Doch die Neugierde, was mich wohl auf diesem geheimnisvollen
Weg erwarten würde, war größer gewesen.
Die Häuser waren sehr klein und einfach gebaut. Sie liessen
vermuten, dass die Familienangehörigen hier auf engstem Raum
miteinander lebten. Hühner und Schafe liefen frei herum, ältere
Männer saßen Pfeife schmauchend vor den ''Hütten''
oder machten sich irgendwie nützlich. Frauen taten ihre Hausarbeit.
Für alles schienen sie unbegrenzte Zeit zu haben, denn niemand
hetzte herum ... es wirkte sehr friedlich hier.
Zweimal hatte mich mein Weg hierher geführt - und jedesmal
waren die Leute vor ihre Hütten gekommen und hatten mich aus
schweigenden Augen angestarrt - so dass mich ein sehr beklommenes
Gefühl beschlichen hatte und ich schnellstens auf dem Weg auf
dem ich gekommen war - wieder kehrt gemacht hatte.
Dann war ich mit Kemal (dem Vater von Baris) in die Nähe nach
Yalova gezogen, wo seine Tante Ganimet
wohnte, wo ich Baris im Devlet
Hastanesi (Volkskrankenhaus) zur Welt bringen sollte.
Einige Wochen nach der Geburt kamen wir wieder nach Cinarcik zurück
und zogen in diesem herrlichen Haus ganz am Ende des Ortes ein.
|