FRANZ SUSMAN - KIRCHENHISTORIKER
"Und die Erde wird neu erblühen"



Leonid Tolstoi
Nach Kriegsende - ewiger Frieden



Der größte russische Philosoph

Den größten russischen Philosophen Leo Nikolajevic Tolstoi (9.9.1828 - 20.11.1910) brauchen wir gerade heute, denn seine Zeit ist gekommen. Seine Mutter brachte den adligen Tolstois Reichtum und 800 Bedienstete.

Neunzehnjährig nimmt er sich vor:
Immer um 5 Uhr aufzustehen, um 9 oder 10 schlafen zugehen; wenig zu essen und Süßigkeiten zu vermeiden; Wünsche durch Arbeit abzuwürgen. Die Mutter starb, als er zwei, der Vater, als er sieben Jahre alt war. Unter dem Einfluss von Rousseaus Emile beginnt er mit 21 Jahren die Kinder der Dienerschaft nach neuen Methoden zu unterrichten. In der Jugend war er wie alle Adligen Jäger. Nicht umsonst hat er soviel Blutvergießen erlebt.

Turgeniev erzählt: "Ich hätte ihm ewig zuhören können. Er ging in das Wesen das armen Tieres hinein und hat mich mitgerissen. Ich musste bemerken: Leo Nikolajevic, es kann keine Zweifel geben, dass du selbst einst ein Pferd warst. Mit 52 Jahren tritt die wesentlichste Wende in seinem Leben ein, als er sich aus philosophischen Gründen für blutlose Nahrung entscheidet. Die Jagd gibt er 1882 auf. Durch einfache Ernährung wollte er auch gesünder leben und sich den russischen Bauern nähern.

Seine wichtigsten Schriften wurden nie gewürdigt. Sie sind verstreut in den Einführungen in die Werke von Autoren, die er selber schätzte. Eine der wichtigsten Schriften ist seine Einführung "Der erste Schritt" in die russische Übersetzung "Ethik der Diät" (1892) vom Engländer William Howard. Diese wichtigste Anthologie der Denker und Dichter aller Zeiten über das Problem Nr. 1 der Menschheit erschien 1883 und wurde bis heute nur ins Russische übersetzt.

Tolstoi verzichtete auf die Tantieme für seine Schriften, als aber die nach seinen Lehren einfach lebenden Duchoborci grausam verfolgt wurden hat er den Ertrag von $ 225.000 für seine "Auferstehung" 1899 an sie überweisen lassen.
Tolstoi hat damals die Duchoborci für den Nobelpreis empfohlen. Sie leben heute in Kanada. Seine philosophischen Vorbilder waren Platon und Plutarch. Er korrespondierte mit George Bernard Shaw, dem ähnliche Bedeutung für die heutige Zeit zuzumessen ist.

Gandhi schrieb ihm aus Transvaal. Er nannte ihn den "Titan Russlands" und unterschrieb "Ein demütiger Anhänger Ihrer Lehre". Auch mit Rainer Maria Rilke hatte er Kontakte. Wenn ich noch erwähne, dass Romain Rolland eine Biographie von Tolstoi verfasste und dass Tolstoi seine Weltanschauung in Deutschland von der Quäker-Siedlung Sonnefeld bei Coburg verbreitet wurde, dann können wir noch einmal sehen, wie nur die Großen andere Größen entdecken und würdigen.

Sein Sekretär Bulgakov hat die friedlichen Ansichten seines Meisters noch vor den bolschewistischen Gremien vertreten. Bulgakov schreibt in seinem Tagebuch "Er ist ein schrecklicher Tierliebhaber und Vegetarier. Nach ihm sind die Tiere viel moralischer denn die Menschen. Die Leute sollten viel mehr so sein wie die Tiere. Ich diskutierte mit ihm und sagte, dass man sich nicht ein Tier als Ideal nehmen kann. Der Mensch besitzt das Schamgefühl, das Tier nicht. Der Mensch bedeckt den ganzen Körper, außer das
Gesicht - der Ausdruck des Geistes" Das ist die Meinung Bulgakars.
Die Tochter Tolstois Alexandra (Saša), die alle Geschwister überlebte, richtete sich auch nach den Prinzipien ihres Vaters aus.

Er war ein Prophet für heute

Propheten wissen um die Zusammenhänge. Die Massen sind nicht weise, deswegen rennen sie von einer Katastrophe in die andere. Die russische Kirche verfolgte alle Propheten. Es war immer so. Hätte man auf Vladimir Soloviev und Leo Tolstoi gehört, wäre der Welt die größte Kalamität aller Zeiten erspart geblieben: der blutige, freiheitsraubende Kommunismus, installiert in Moskau durch jenen Kapitalismus, den Tolstoi entlarvte. Ich kenne keinen Schriftsteller der am Ende des 19. Jahrhunderts die Ursachen der Missstände so gut durchblickt. Man könnte auf jeden Fall bei Tolstoi (Wagner, Gandhi) lernen. Deswegen müssen seine philosophischen Schriften veröffentlicht werden.

In keiner Sprache sind sie in voller Gänze auf dem Markt. Eine lohnende Aufgabe für die Pazifisten. Menschen, Tier - und Naturfreunde!

Ein großer Mensch lebt nie für sich allein. Tolstoi ist uns heute näher als vor hundert Jahren. Er genoss zu seinen Lebzeiten das Attribut der Unsterblichkeit. Seine wahre Bedeutung geht jedoch heute auf, nachdem man die Nebensächlichkeiten vergessen hat.

Erst nach mühevollem Studium wandte er sich gegen die Kirche. Er schreibt gegen staatliche Einrichtungen, gegen die Gerichtsbarkeit, gegen die barbarische Institution der Kriege - nachdem er sich mit Staatslehre und Politik eifrig beschäftigt hat. Seine dichterische Kraft kommt seiner Ausdrucksfähigkeit zu Hilfe. So entsteht ein großes Ideensystem, ausgebaut in den feinsten Teilen, eine Mosaikarbeit, wo ein Gedanke sich logisch an den anderen reiht. Sein philosophisches System ist verständlich und schön. Er hat das Wichtigste zu Ende gedacht, deswegen kann er es einfach, schön und auch literarisch gut ausdrücken. Sein von Humanität durchwehtes, machtvolles Lehrgebäude ist gekleidet in die Form eines Kunstwerkes "das seinen eigenen Maßstab der Bewertung herausfordert"
So hat ihn Theodor von Geletzki erkannt. Er hat 1906 gemeint, dass ihm die Höhe Luthers zusteht, falls seine Lehren in der Zukunft wenigstens teilweise greifbare Formen annehmen.
"Denn was ein großer Mensch schreibt, hat immer Bedeutung, selbst wenn Fehler unterlaufen, und nicht alles so leicht ausführbar ist, wie es dem Schöpfer erscheint".

Der reife Tolstoi geht von der christlichen Lehre aus

Das Christentum bildet das Zentrum all seiner Bestrebungen und Verkündigungen; ein echter, wahrer Christ zu sein, ist sein eigenes Ideal geworden.
Und dieses Ideal lautet: Auf Grund des Meisters richtigen Verständnisses der Heilslehre durch Reform der bestehenden Kirchenlehren, Umwandlung der bestehenden Ordnung, soll eine Art von Menschen-Veränderung erreicht werden, wo der Mensch, seiner Würde sich wieder bewusst, nicht mehr eine leichte Beute aller Laster ist, die ihn daran hindern, ein moralisches Leben zu führen, - sondern durch Selbstzucht und Enthaltsamkeit wieder dahin gelangt, Tugenden wie Großmut, Liebe, Uneigennützigkeit und Gerechtigkeit im höchsten Maß auszuüben. Tolstoi erkennt schon eine Ungerechtigkeit darin, dass wir, an Luxus und Wohlleben gewöhnte Menschen, zu eigenem Ergötzen, zu eigener Bequemlichkeit Nutzen ziehen aus der Arbeit anderer Menschen, sie zu Arbeitssklaven machen, damit wir uns allerhand Genüsse verschaffen können. Wer viel Geld hat, kann andere durch Zinsen ausbeuten.

Es ist für uns wichtig zu wissen, dass Tolstoi diese Erkenntnisse in die Tat umsetzen kann. Er kleidet sich einfach, verweigert jegliche Mitarbeit bei den Gerichten, tritt aus der Kirche aus, und nimmt nur noch unblutige Speise zu sich, im Wissen und Kenntnis der wahren Lehre der Religionsstifter und Philosophen. "Ich habe begriffen, sagt er, worin mein Wohl besteht, und kann deshalb nicht das tun, was mich meines Wohles beraubt." Die Reichen wollten ihn nicht verstehen. Diese Leute glaubten zwar, lebten aber weiter gedankenlos und im Überfluss.

Die Befriedigung ihrer Wünsche ging ihnen über alles. Ein solcher Glaube konnte nicht der richtige sein. Es handelte sich nur um Snob, Mode, Prahlerei. Da wandte er sich an das einfache Volk. Hier herrschten schwere Arbeit und Zufriedenheit, anstatt der Schwelgerei und des Überdrusses der vornehmen Klassen. "Und ich gewann diese Menschen lieb. Je tiefer ich in ihr Leben eindrang, in das der Lebenden, wie der Verstorbenen, von denen ich gelesen und gehört hatte, desto mehr gewann ich sie lieb, und desto leichter wurde es mir selber zu leben." Er sah, dass es zwei Klassen von Menschen gibt: die Ausbeuter und die Ausgebeuteten. Gute Menschen traf er nur in der zweiten Klasse. "Das Leben des gesamten ausgebeuteten Volkes, der ganzen Menschheit, die das Leben schafft, stand klar vor mir in seiner wahren Bedeutung. Ich hatte erkannt: das ist das Leben selbst."

Dichter und Denker von der Bedeutung Tolstois kamen auf die Idee, dass man wahre Kultur nur durch die Vereinfachung der materiellen Bedürfnisse schaffen kann, speziell im Essen und Trinken. Er sagt wieder-holt, dass nach der Lehre Platons und der - klassischen Philosophen das wahre menschliche Leben mit der Enthaltsamkeit beginnt: Diese erste Speise allein führe zum moralischen Leben. Fresser, aus-schweifende, entnervte Menschen, alle die Müßiggänger der oberen Zehntausend könnten kein moralisches Leben führen. Der Schlemmer verfrisst das Brot der Armen, wie schon Chrisostomos lehrte, weswegen auch er verfolgt wurde. "Vom Standpunk der Gerechtigkeit und der Humanität ist das heutige allgemeine Schwelgen ein verwerfliches, verweichlichendes, unsittliches (einfügen?: Verhalten)." Der größte Wert der Enthaltsamkeit aber liegt darin, dass auch die Armen lernen könnten, wie wenig man bracht um satt zu werden.

Platon lehrte, dass das erste Anzeichen des Untergangs eines Kulturstaates der Anzahl der Köche zu entnehmen ist. Keinem der reichen, sich moralisch dünkenden Menschen fällt es ein, sich auszurechnen, welche Unsumme von Arbeit, Wasser, Rohstoffen dazu gehört, um all das zu produzieren, was er für sein Leben benötigt.

Um ein guter Mensch zu sein, muss man bloß aufhören, Böses zu tun. Es ist eine einfache Sache der Gerechtigkeit. Jahrhunderte lang ertönte in den russischen Kirchen "Gospodi pomylui", im Westen "Kyrie elsyson" und heute "Herr, erbarme dich unser".

Man muss selber barmherzig sein, wann man auf Erbarmung hoffen will. Die Enthaltsamkeit beginnt beim Nichtschaden anderer Geschöpfe. Das hat Tolstoi als die wichtigste philosophische Lehre erkannt und gelebt. Er sagt, dass die Enthaltsamkeit den Menschen von unreinen Begierden befreie. "Die größter Feinde der Enthaltsamkeit sind Gefräßigkeit und Feinschmeckerei. Beide führen ein ganzes Heer von Lastern mit sich. Der äußere Erfolg ist immer der gleiche: es entstehen Menschen mit übervollem Körper, mit Doppelkinn und hängenden Wangen, mit unförmigen Gliedmassen, hervorstehendem Bauch. Man kann versichert sein: das ist ein Mensch, der sich selbst liebt, sich selbst lebt, und für andere nur so viel übrig hat, als die Anschauung der Welt dies fordert."

Zeitweiliges FASTEN ist für Tolstoi ein Gebot der Mäßigkeit, und diese führe zu einem moralischen Leben. Je mehr sich der Mensch dem Gebot des Fastens fügen lerne, desto mehr werde er der geistigen Interes-sen des Lebens einen ernsthafteren Geschmack abgewinnen und aus einem materiellen zu einem geistigen Menschen gedeihen.

Der Philosoph verwirft das Tiereessen weil er es mit dem Mitleid, der höchsten und natürlichsten Empfindung unvereinbar hält, anderen Lebewesen, die dasselbe Recht zum Dasein haben, wie der Mensch, das Leben gewaltsam zu rauben.

Wir wollen mit Absicht Vieles von Tolstoi erwähnen, anführen und zitieren, damit dem Leser unmissverständlich klar wird, dass dieser russische Titan die Ursache der Kriege entdeckt hat, und dass wir auf den Frieden hoffen können, wenn wir diese Zusammenhänge begriffen haben. Platon fand dasselbe.

Wir kommen später noch zur Bedeutung der falschen Lehren, die sich im Namen des Christentums verbreitet haben, und das allgemeine Blutvergießen ermöglichten.
Tolstoi ist ein Philosoph und er geht den Ursachen nach. Die Philosophie ist die Suche nach den letzten Ursachen. Keine Therapie ist möglich, wenn man die Ursachen nicht kennt und nicht beseitigt. Er hat nicht nur einmal und nicht nur oberflächlich behauptet, dass es Schlachtfelder geben wird, so lange es Schlachthäuser gibt. Die Grausamkeit will im Kleinen gelernt werden.

Tolstoi freut sich über die Tatsache, dass sich in Amerika, England und Deutschland seinerzeit die blutlose Diät und die Literatur darüber sehr verbreitete. In jener Zeit gab es viele Restaurants, die das blutlose Abendmahl anboten, für den Dichter ein Anzeichen, dass das Reich Gottes irgendwann verwirklicht werden könnte. Die Rückkehr in den gottgeplanten und gottgewollten Zustand, ist der Leitgedanke des Meisters. Obwohl er sich an das Wort Ethik hält, den Tiermord aus rein ethischen Gründen, die Fleischnahrung aus moralischen Gründen verwirft, das Mitleid als das höchste ethische Empfinden preist, so ist im Hintergrund immer das Verlangen zu spüren, alle diese Forderungen als das Wesen der christlichen Gebote hinzustellen. Er hatte wohl mit einer Gesellschaft zu tun, die meinte christlich zu sein. Tolstoi hat eben an vielen Stellen betont, dass das Christentum nichts Neues bedeutet und dass die Sozialisten den Frieden eher verwirklichen werden als die Christen.

Auf's Land, auf's Land

Das Gros der Arbeit, meint er, müsste aus der Stadt ins Grüne verlagert werden. Der erste und einzig notwendige Beruf des Menschen ist der des Gärtners (Rousseau und Essener). Erst, wenn man selbst, auf eigener Scholle die Nahrungsmittel ziehen kann, wird er auch andere Tätigkeiten mit Erfolg ausüben können.

Leo Tolstoi erklärt das Mitleid für eines der höchsten ethischen Gebote des Menschen. Schon mit Wagner beginnt das Zeitalter und die Religion des Mitleids. Das Mitleid ist dem Menschen angeboren, es liegt ihm tief im Herzen und verbietet ein lebendes Wesen zu töten. (Genau dasselbe erkannte Henry Thoreau). Tötet er doch, so gibt es keine andere Erklärung, als dass er mit Gewalt dieses höchste Gefühl zum Schweigen bringt, seinem besseren Selbst Gewalt antut, um eine unerhörte Grausamkeit zu begehen.

Ohne Mitleid entzieht sich der Mensch überhaupt jeder Möglichkeit, mit anderen Lebewesen friedlich in Gemeinschaft zu leben. Das Mitleid, die erbarmende Liebe, so Tolstoi, sollte immer sich gleich bleiben, ob es für einen anderen Menschen empfunden wird oder für ein Tier, ein Pferd, einen Ochsen oder eine Ameise oder Fliege. Jedem Geschöpf ist das Leben gleich lieb, weder Mensch noch Tier möchten es ohne Not einbüßen. "Einem Tier den Bauch aufzuschlitzen, den Kopf an einen Baum zu zerschmettern, es in Stücke zu zerreißen, das sind die gewöhnlichsten, notwendig scheinenden Ausübungen auf der Jagd.

Ein jeder begeht Untaten, für welche er die Straßenjungen ausschimpfen oder verprügeln würde, wenn er die Frevel an Tieren verübt sähe, die man nicht als 'Wildpret' anerkennt". Als Jäger hat er einmal einen Wolf angeschossen und dann mit einem großen Knüppel totgeschlagen, indem er ihn an die Nasewurzel traf. Tolstoi sagt, der Wolf habe ihm gerade in die Augen gesehen und bei jedem Schlag einen erstickten Seufzer ausgestoßen. Am Abend im Bett hätte er zuerst nur Vergnügen gespürt, dann aber wurde dieses durch das Gefühl einer strafbaren Handlung ersetzt. "Ich konnte es nicht loswerden, was ich auch dagegen sagte. Das Vergnügen war ganz miserabel, und noch miserabler die Ausrede." Die Beschönigung war etwa die Folgende: Der Wolf ist ein Raubtier, das andere unschuldige Wesen vernichtet. Durch seinen Tod geschieht ihm nichts Unrechtes. Nun könnte aber der Wolf sagen: Die Hasen fressen mit dem Kohl viele Insekten auf, verdienen also ihr Schicksal - ebenfalls gefressen zu werden. Da hätten wir den Sophismus! Somit meint man das Unbequeme aus dem Weg geschaffen zu haben.

Diesem Tiermord aus reinem Vergnügen, wie er bei der Jagd geübt wird, steht nun der staatlich konzessionierte Tiermord in den Schlachthäusern als würdiges Gegenstück gegenüber. In lebendigen, teilweise erschütternden Bildern beschreibt der Dichter die Grausamkeiten und das Entsetzliche dieser Tierschlachtungen. Er führt uns in die Schlachthäuser von Tula, beschreibt mit der nur ihm eigenen lebendigen An-schaulichkeit die Einrichtungen der Gebäude, das Heranfahren der Tiere, das Benehmen der Karrenführer, Händler, Schlächter, die Gleichgültigkeit und Rohheit der Schlächtergesellen, die ihre amüsanten Gespräche fortsetzen, während sie ein Kalb oder ein Ferkel mit mechanischem Gleichmut abschlachten.

In weiteren Betrachtungen ergeht sich der Dichter über das Widerspruchsvolle der menschlichen Natur. Hier ein Erlebnis Tolstois, das ihn tief berührte. Später wird noch mehr darüber zu lesen sein.

Tolstoi fährt mit einem kräftig gebauten, plumpen etwas trunksüchtigen Bauern durch ein Dorf, wo man gerade ein Schwein schlachtet. Das Tier schrie mit menschenähnlicher Stimme, man fuhr ihm gerade mit dem Messer über die Kehle. Das Geschrei wurde immer lauter, kreischender. Schließlich riss es sich, blutüberströmt, los und raste, verzweifelt schreiend, davon.

Der rohe Kutscher, der das ansah, schlug mechanisch das Kreuz und rief aus: "Gibt es keinen Gott mehr?"

Dieser Ausruf - so sagt der Dichter - der ganz instinktiv getan wurde, zeigt deutlich, dass der tiefe Abscheu vor dem Mord, auch dem Tiermord, in des Menschen Herz verborgen ruht, und dass wir ihn nur ersticken, weil der Verstand hier dem Mitleid keinen Raum lassen will, so wie wir ja auch die Stimme des Gewissens betäuben oder ersticken, immer dann, wenn uns die Vernunft solches als probat anempfiehlt.

Auch der Antrieb der Gefräßigkeit beim Menschen und die Behauptung, alles das sei von Gott erlaubt, und vor allem die Gewohnheit bringen dieses natürliche Gefühl im Menschen vollkommen zum Schweigen."


Noch manche Beispiele führt der Dichter an, um uns den Mangel an Logik zu beweisen. Wer ernst gegen solche Widersprüche ankämpfen, ernst eine Reform anbahnen will, der muss sich vor allem Eigenschaften anschaffen, die zur Tugend führen, wie: Selbstbeherrschung, Enthaltsamkeit - Mäßigkeit in der Nahrung, fleischlose Kost, zeitweises Fasten. Die Fleischnahrung, so sagt Tolstoi, sei vor allem gefährlich für das ernste Streben nach Tugend, da sie eine Aufreizung unserer Leidenschaften zur Folge habe.

Der erste Schritt - von Leo Tolstoi

Jedes Handeln des Menschen sollte Methode haben, sonst kann er seine Ziele, die er anstrebt, nicht erreichen. Dieses Prinzip gilt sowohl für den materiellen als auch für den immateriellen Bereich. Genauso wie der Bäcker kein Brot backen kann, wenn er nicht vorher den Teig geknetet hat, und den Ofen angeheizt hat, so kann auch der Mensch, der sich moralisch entwickeln will, sein Ziel nur erlangen". wenn er sich moralische Eigenschaften anerzieht Dabei muss er nach einem System vorgehen, und mit grundsätzlichen Dingen beginnen.

Schon die chinesischen Weisen lehrten, dass es eine Stufenleiter von der Erde zum Himmel gäbe, die man nur so erklimmen könnte, indem man mit der untersten Stufe begänne. Die gleiche Regel kannten auch die Brahmanen, die Buddhisten, die Anhänger des Konfuzius sowie die weisen Lehrer Griechenlands.

Alle moralischen Menschen, waren sie nun gottgläubig oder materialistisch ausgerichtet, haben anerkannt, dass es ein methodisches Vorgehen bei der Aneignung moralischer Grundwerte gebe. Doch wie eigenartig ist es, dass seit der Zeit, da die Kirche das Christentum vereinnahmt hat, dieses Bewusstsein verschwunden ist.
Immer mehr kam die Meinung auf, ein Mensch könne höhere Qualitäten erlangen ohne vorher die Voraussetzungen für diese Qualitäten zu schaffen. Ja, es kam sogar zu der Ansicht, dass ein Mensch sowohl sehr hohe Tugenden besitzen könne, obwohl er gleichzeitig ein äußerst lasterhaftes Leben führte.
Diese Ansicht beweist, dass dem heutigen Menschen der Begriff für ein moralisches Leben ganz abhanden gekommen ist.

Der Werdegang der Entartung

Die Entartung der Moral ist nach Tolstois Ansicht folgendermaßen entstanden:
Das Christentum hat die klassische Philosophie immer mehr verdrängt. In den Anfängen war auch die christliche Moral noch anspruchsvoll und lehrte die Erlangung der Vollkommenheit in mehreren Stufen.

Jedoch die Mehrzahl der Christen betrachteten die Lehre Christi immer mehr als eine Lehre der Erlösung, und nicht so sehr als eine Hilfe auf dem Weg zur Vollkommenheit.
Zum Beispiel fassten die Katholiken und die Orthodoxen den Wert des Christentums als Loskauf von der Sünde durch die göttliche Gnade auf, wobei die Kirche eine Vermittlerrolle einnahm.

Die Folge war, dass Ernst und Aufrichtigkeit der Menschen gegenüber der christlichen Moral zunehmend schwanden. Die Vertreter der Kirchen predigten zwar, dass ihre Heilsmittel den Menschen nicht hindern würden, nach einem moralischen Leben zu streben, doch es zeigte sich, dass die Menschen, die sich dem Glauben an die Erlösung überließen, keine eigenen Anstrengungen mehr unternahmen um vollkommen zu werden. Denn es war ja viel einfacher, sich dem Dogma der Erlösung zu unterwerfen, als sich selbst auf den Weg zur Vervollkommnung zu begeben.

Die Kirchen oder das Ende der Moral

In der kirchlichen Lehre lag die Hauptursache für die Erschlaffung der Sitten. Warum sollte man sich zu guten Gewohnheiten zwingen und sich bestimmter Freuden enthalten, wenn das Resultat doch dasselbe sein würde.

Tolstoi zitiert die Enzyklika des Papstes Leo XIII "Rerum novarum" (1891), in der er über den Sozialismus spricht. Darin heißt es: "Niemand ist verpflichtet, sich oder seiner Familie das Nötigste zu nehmen, oder sich in dem zu beschränken, was die weltliche Lebensweise verlangt, um damit seinen Nächsten zu unterstützen. Niemand soll im Widerspruch mit der Konvenienz leben."
"Aber wenn den Bedürfnissen und dem äußeren Anstand Genüge geleistet ist, so ist es Pflicht eines jeden, den Überfluss den Armen zu geben."

Tolstoi entlarvt dies als egoistische Lehre, dem Nächsten zu geben, was man nicht nötig hat, und er zeigt die Widersprüchlichkeit der kirchlichen Lehre auf, wenn sie doch an anderer Stelle die Worte des Apostels Paulus, 1. Korintherbrief, Kap.13, "Das größte ist die Liebe" ständig predigt.

"Obgleich in der ganzen neutestamentlichen Lehre immer wieder zur Selbstverleugnung ermahnt und gelehrt wird, diese Tugend sei die erste Vorbedingung zur Erreichung der christlichen Vollkommenheit" obwohl gesagt wird: "Wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt, wer nicht Vater und Mutter verleugnet (meistens wehren sich Vater und Mutter dagegen, wenn wir Vegetarier werden), wer nicht sein Leben einsetzt... wollen diese Leute doch andere überreden, um den Nächsten zu lieben, sei es nicht nötig, aufzuopfern, was man nicht gewöhnt ist, und es genügt, zu geben, was man für gut findet."

Erster Grundsatz jeder Moral

Schon Sokrates war der Ansicht, dass die erste Tugend, die man sich aneignen müsse, die Enthaltsamkeit ist. Ohne sie kann man kein moralisches Leben aufbauen.
"Es ist doch einleuchtend, dass der Mensch, der sich nicht zu beherrschen vermag, die leichte Beute aller Laster wird und dass es ihm unmöglich ist, ein moralisches Leben zu führen. Ehe der Mensch an Großmut, an Liebe, an Uneigennützigkeit und an Gerechtigkeit denkt, muss er lernen, sich zu beherrschen."

Die herkömmliche Meinung ist, dass dies alles überflüssig sei. Man meint, der Mensch könne absolut ein moralisches Leben führen, auch wenn er sich seinen Neigungen für Luxus und Vergnügungen hingäbe.
Doch muss jeder anerkennen, dass derjenige, der die Arbeit, und oft die mühevolle Arbeit anderer zu seinem eigenen Vergnügen ausbeutet, schlecht handelt. Er muss mit dieser Gewohnheit brechen, wenn er so leben will, wie es sich gehört. Es hat auch noch unangenehme Folgen, wenn er so weiterlebt. Denn die Menschen, die er ausbeutet, werden mit Neid und Unlust für ihn arbeiten und nur auf eine günstige Gele-genheit warten, um sich aus ihrem Joch zu befreien.
Auch ist es äußerst ungerecht, sich an der Arbeit von Menschen zu bereichern, die sich nicht den hundertsten Teil der Genüsse leisten können, die sich derjenige verschafft, der sie für sich arbeiten lässt.
Vom Standpunkt der christlichen Liebe aber ist es weit entfernt, andere für sich schuften zu lassen, anstatt mit ihnen zusammenzuarbeiten.

Konsumdenken

In unserer Gesellschaft werden diese Forderungen nach Gerechtigkeit und Liebe vollkommen missachtet. Das Anheizen von Bedürfnissen gilt als wünschenswert und wird als das Anzeichen der geistigen Entwicklung unserer Zivilisation gewertet.
Sogar so genannte gebildete Menschen meinen, dass die Gewöhnung an Bequemlichkeit ein Zeichen moralischer Tugend sei. Je mehr Bedürfnisse, desto mehr werden diese Bedürfnisse verfeinert.

Erziehung

Die Ursache, dass man den Kindern und überhaupt dem heutigen Menschen das klassische Enthaltsamkeitsideal und die urchristliche Selbstverleugnung nicht als gute uns wünschenswerte Eigenschaften hinstellen kann, liegt in unserem System der Erziehung. Anstatt die Kinder stark und mutig zu machen, verweichlicht man sie und gewöhnt sie an Müßiggang.

An dieser Stelle illustriert eine Geschichte die Gedanken Tolstois:

"Eine Frau, welche von einer anderen beleidigt wurde und sich an ihr rächen will, stiehlt dieser ihr einziges Kind. Sie geht mit ihm zu einem Zauberer und fragt ihn, auf welche Weise sie die grausamste Rache an ihrer Feindin durch deren Sohn nehmen könne.

Der Zauberer rät ihr, das Kind an einen Ort zu führen, den er ihr nennt, und er verspricht ihr eine schreckliche Rache. Die böse Frau folgt diesem Rat, lässt aber das Kind nicht aus den Augen.

Zu ihrer großen Überraschung sieht sie, wie das Kind von einem reichen Mann ohne Erben zu sich genommen wird. Sie kehrt zu dem Zauberer zurück und überhäuft diesen mit Vorwürfen. Er aber antwortet, die Zeit sei noch nicht gekommen, und sie müsse warten.

Doch das Kind wächst auf in Luxus und Überfluss. Die böse Frau ist erstaunt, doch der Zauberer wiederholt ihr, sie solle warten. Und wirklich kommt eine Zeit, wo ihre Rache so furchtbar sich zeigt, dass selbst sie das Opfer beklagt.

Der im Reichtum aufgewachsene junge Mann richtet sich bald zu Grunde, und nun beginnt eine Reihe von Entbehrungen und physischen Leiden, für welche er besonders empfindlich, gegen die er aber hilflos ist.

Einerseits ziehen ihn edle Regungen nach einem geregelten Leben hin, andererseits fühlt er die Machtlosigkeit seines durch Luxus und Müßiggang entnervten, geschwächten und verweichlichten Körpers. Es ist ein unaufhörlicher, hoffnungsloser Kampf. Dann kommt die Trunksucht, als Mittel, um zu vergessen, dann das Verbrechen, der Wahnsinn und endlich der Selbstmord."


So setzt unsere Erziehung heute weichliche Gewohnheiten in die Kinderseele. anstatt die Kinder zu lehren, wie man seine Neigungen beherrschen kann. Dadurch gewöhnt sich der Mensch an Müßiggang und Verschwendung und lernt nie, seine Arbeit zu lieben, vielmehr schätzt er jede Produktivität gering ein. Die erste Tugend, die Sittsamkeit geht dem Menschen so völlig verloren.

So vorbereitet tritt der junge Mensch ins Leben. Es scheint, dass hier Gerechtigkeit, christliche Liebe und Wohltätigkeit hochgeschätzt und geachtet werden, wenn man den Predigten und Reden trauen darf. Aber dass hier nur scheinbare Moralität anklingt und dass die Lüge das Grundgesetz der Gesellschaft ist, das durchschauen nur diejenigen, deren moralisches Gefühl noch nicht abgestumpft ist. Die anderen die sich mit den Zustanden abfinden. können ruhig und glücklich leben.

Immer häufiger kommt es vor, dass Menschen sich nach den Grundsätzen der wahren Moral fragen und in ihnen entbrennt ein innerer Kampf, weil sie Anspruch und Wirklichkeit so weit auseinanderklaffen sehen.

Der Mensch fühlt in seinem Innersten, dass etwas falsch läuft und dass das Leben gründlich geändert werden müsste. Wenn er es aber versucht und auch nur irgendetwas verändert in seiner Lebensweise, dann stehen all die anderen, die in ihrer Jugend ein ähnliches Gefühl verspürten und dann im Kampf um eine Änderung unterlagen, all jene stehen auf und setzen all ihre Möglichkeiten ein, um jenen zu überzeugen, dass weder Reinheit noch Entsagung im Leben notwendig seien, um gut zu sein und dass man auch in Luxus und Unmäßigkeit, in Müßiggang ja sogar im Laster ein absolut gerechter und nützlicher Mensch sein könne.

Entweder gibt jener Einzelne auf und schließt sich seinen vermeintlichen Freunden an, betäubt sein Gewissen oder sucht sich mit Ausreden zu rechtfertigen, er werde schon alles wieder gutmachen. Dabei helfen ihm die Lehren von der erlösenden Wirkung der Sakramente oder die Verehrung und die Tätigkeiten im Dienste der Wissenschaft, der Kunst und des Vaterlandes. Gibt er aber nicht auf und hält an seiner inneren Stimme fest, so verfällt er über kurz oder lang dem Wahnsinn und begeht nicht selten Selbstmord.

Ganz selten aber geht diesem suchenden Menschen auf, daß es für alle moralischen Menschen eine Ur-Wahrheit gibt, die es schon vor tausenden von Jahren gab: daß man nämlich bevor man irgendeine Vervollkommnung des Charakters anstreben kann, erst die Tugend der Enthaltsamkeit und der Selbstbeherrschung lernen muss. Diese werden bei allen alten Philosophen gelehrt. Die Christen fanden dafür den Begriff der Selbstverleugnung, der im Grunde dasselbe meint.
Im Menschen ruht eine natürliche Neigung für gute Sitten und edle Taten, aber es fehlt ihm in der jetzigen Gesellschaft an der dazugehörigen Mäßigkeit. Das heute übliche verweichlichte Leben, eine übermäßige fette Nahrung, ständige Vergnügungen und Ausschweifungen verhindern ein moralisches Dasein.

Und wenn der Mensch merkt, dass er keine moralischen Fortschritte macht, dann wird er pessimistisch und sagt: "Das ist eine tragische Situation des Menschen."
Manche Menschen sehen, dass die Verteilung der Güter ungleich ist. Sie wollen diese Ungleichheit abschaffen, hören aber dabei nicht auf, selber nach dauernden Vergnügungen zu jagen. So gleichen sie Leuten, die als erste in einen Obstgarten kommen und schnell alle Früchte pflücken, sich aber wünschen, dass alle Früchte gerecht verteilt werden, obwohl sie sich selbst aller Früchte bemächtigen.

Was ist Gerechtigkeit?

"Der Irrtum, von dem wir sprechen, ist so unbegreiflich, dass ich überzeugt bin, die kommenden Generationen werden nicht begreifen, was die Männer unserer Zeit unter einem 'moralischen Leben' verstanden, wenn sie sagten, dass der Fresser, der Entnervte, der Ausschweifende, der Müßiggänger unserer reichen Klassen ein moralisches Leben führen."

Es ist richtig, dass man nur die Anschauungsweise der reichen Klasse aufzugeben braucht, und das Leben vom Standpunkt der Gerechtigkeit aus betrachten muss, um zu sehen, wie sehr das Leben der Reichen den einfachsten und ursprünglichsten Grundsätzen der Gerechtigkeit widerspricht. Nicht einmal Kinder in ihren Spielen würden solche groben Ungerechtigkeiten gelten lassen.

In unseren Kreisen aber wird oft von einer gerechten Handlungsweise, die dem üblichen Verhalten nicht entspricht, als Prahlerei gesprochen, nur um die allgemein übliche unmoralische Handlungsweise nicht infrage stellen zu lassen. Wäre aber unser Leben immer gerecht, so wäre jede Handlung notwendigerweise auch gerecht, und sie würde den normalen Ablauf des täglichen Lebens nicht stören.

Die Moralität des Lebens kann nur durch das Verhältnis von Egoismus und Altruismus definiert werden. Je weniger man sich selbst wichtig nimmt, desto weniger verlangt man, dass andere sich um einen sorgen, und je mehr man sich um andere kümmert, desto mehr arbeitet man auch für das Wohl der anderen und desto moralischer ist das Leben.

Alle wahren Menschen stimmen in dieser Auffassung überein, dass je mehr der Mensch anderen gibt und je weniger er für sich verlangt, er desto näher der Vollkommenheit steht. Je weniger er aber anderen gibt und je mehr er für sich selbst verlangt, desto weiter ist er von der Vollkommenheit entfernt.

In unserer heutigen Gesellschaft aber ist es so: anstatt anderen zu essen zu geben, isst der Mensch lieber den Überschuss auf. Dadurch vermindert er nicht nur die Möglichkeit, den Überschuss wegzugeben, son-dern weil er sich überfüllt, hat er nicht mehr die Möglichkeit an andere zu denken.

Wir glauben von uns und überreden uns, dass wir andere lieben, aber das ist nur in Worten nicht aber in Taten der Fall. So kann der verweichlichte und an Luxus gewöhnte Mensch kein echt moralischer Mensch sein, auch wenn er die Fähigkeiten dazu hätte, wie ja auch ein Messer von bester Qualität nicht schneiden kann, wenn es nicht geschärft wurde. Gut zu sein, und guten Sitten zu haben heißt: dem anderen Menschen mehr zu geben als man selbst empfängt. Der an Luxus gewöhnte Mensch kann das nicht tun, schon deshalb nicht, weil er zahlreiche Bedürfnisse hat, die erst befriedigt sein wollen, ehe er an andere denken kann.

"Ich kann mir nicht versagen, immer dasselbe zu wiederholen ungeachtet des
kalten, feindlichen Schweigens, mit dem diese Worte aufgenommen werden"

Ein moralischer Mensch, der alle Bequemlichkeiten genießt, oder selbst ein Mensch der mittleren Klasse, kann nicht ruhig leben bei dem Gedanken, dass alles, was er genießt, die Frucht der Arbeit von ganzen Generationen von Arbeitern ist, welche, erdrückt durch die Last des Daseins, ohne Berechnung, in Unwissenheit, Trunkenheit, Ausschweifung, halb wild leben und in den Fabriken oder am Pflug sich abmühen, um die Gegenstände zu produzieren, welche dem Menschen der höheren Stände dienen. Ich, der ich das schreibe, und der Leser, der es liest, wer er auch sein mag, Ihr wie ich, wir haben genügend, oft überreiche Nahrung, reine Luft , Winter- und Sommerkleidung, alle Arten von Vergnügungen und besonders Muße bei Tag und vollständige Ruhe bei Nacht. Neben uns aber lebt das Arbeitervolk, dem Nahrung und gesunde Wohnung, genügend Kleidung und Zerstreuungen fehlen und welches nach der Arbeit wieder keine Mußestunden und auch nachts keine Ruhe hat : Greise, Kinder, Frauen, welche alle von der Arbeit, von schlaflosen Nächten, von Krankheiten erschöpft sind, und welche ihr ganzes Leben lang für uns arbeiten, um immer denselben Gegenstand der Bequemlichkeit und des Luxus herzustellen, den sie nicht besitzen und der uns nur überflüssig und unnötig ist.

Darum muss auch ein guter Mensch, ein Menschenfreund oder ganz einfach ein Freund der Gerechtigkeit den Wunsch empfinden, sein Leben zu ändern und aufzuhören, sich der Luxusgegenstände zu bedienen, die Arbeiter unter solchen Umständen hervorgebracht haben.

Wenn der Mensch wirklich Mitleiden mit denjenigen seiner Mitmenschen hat, welche den Tabak produzieren, so wäre das erste für ihn, das Rauchen aufzugeben, denn indem er damit fortfährt, ermutigt er die Produktion des Tabaks und schädigt seine Gesundheit."

Tolstoi geißelt das Argument, man müsse dem Arbeiter doch Arbeit geben, schon dadurch erhalte die Herstellung selbst unnützer Dinge einen Sinn. Als ob es keine andere Arbeit auf der Welt gäbe, als die Herstellung nutzloser oder schädlicher Gegenstände!

Und diejenigen, die so genannte Dienstleistungen erbringen, Beamte und Angestellte, dann Priester, Landwirte, Fabrikanten, Kaufleute, sie alle sind auf die Arbeit der Arbeiter angewiesen. Sie tun zwar ihren Dienst beim Staat, bei der Kirche, bei der Wissenschaft, bei der Kunst und sind auch überzeugt, dass sie dem Menschen soviel geben, wie sie vergütet bekommen.
Sieht man aber genauer hin, so stellt man fest, dass sie nicht nach dem vergütet werden, was sie leisten, sondern dass man ihre Leistung nach dem einstuft, was sie an Lohn bekommen. Sie sind dem Arbeiter mit ihrem Tun nicht im mindesten dienlich, sondern sie profitieren nur von der Arbeitsleistung der Arbeiter, weil sie nichts anderes können, als sie tun, und an ihrem Tun doch soviel Gefallen gefunden haben, dass sie es nicht mehr lassen wollen.
"Alles das kommt daher, weil die Menschen glauben, man könne ein moralisches Leben führen, ohne die zu einem solchen Leben nötigen Eigenschaften erworben zu haben.
Die erste dieser Eigenschaften ist die Enthaltsamkeit."

Am Anfang allen Glücks steht die Enthaltsamkeit

Ohne die Enthaltsamkeit kann man nicht moralisch leben. Doch wird diese Tugend nicht auf Anhieb erreicht. Sie muss stufenweise erarbeitet werden.
Enthaltsamkeit ist die Befreiung von unreinen Begierden. Das Ziel ist ein Leben in Mäßigung. Der Mensch besitzt zahlreiche Leidenschaften. Um diese mit Erfolg bekämpfen zu können, muss er die allen zugrunde-liegende Leidenschaft zuerst bekämpfen. Bekämpft er zuerst ein Laster, das die Folge anderer Laster ist, so kämpft er ohne Aussicht auf Erfolg.

Es gibt kompliziertere Leidenschaften wie die Putzsucht, das Spiel, Vergnügungen, Neugierde; und es gibt ursprüngliche Leidenschaften wie die Gefräßigkeit, den Müßiggang und die Unzucht.
"Im Kampf gegen die Leidenschaften muss man nicht mit dem Ende anfangen, sondern man muss mit denen beginnen. welche die Quelle der anderen sind und auch dann in einer bestimmten Reihenfolge, nach der Natur dieser Leidenschaften selbst und nach der Tradition der Weisheit.

Der gefräßige Mensch ist unfähig, gegen die Faulheit zu kämpfen, und der, welcher müßig und gefräßig zu gleicher Zeit ist, wird niemals die Kraft haben, andere Leidenschaften zu bekämpfen. Darum muss nach allen Lehren das Streben nach der Enthaltsamkeit mit dem Kampf gegen die Gefräßigkeit beginnen, also mit dem Fasten.
In unserer Gesellschaft ist diese erste Tugend, die Enthaltsamkeit, vollkommen vergessen, ebenso wie die notwendige Stufenfolge zur Erlangung dieser Tugend. Das Fasten hat man gänzlich aufgegeben, man betrachtet es als einen dummen und ganz unnützen Aberglauben.

Aber ebenso wie die erste Vorbedingung eines moralischen Lebens die Enthaltsamkeit ist, so ist auch die erste Vorbedingung der Enthaltsamkeit das Fasten.

Man kann wünschen, gut zu sein, man kann danach streben, das Gute zu tun, ohne zu fasten, aber in Wirklichkeit ist es ebenso unmöglich, als zu gehen ohne aufzustehen.
Die Feinschmeckerei dagegen ist das erste Anzeichen eines ausschweifenden Lebens, und leider ist dieses Anzeichen den meisten Menschen unserer Zeit im höchsten Grad eigen. Man betrachte die Gesichter und Körper der Leute unserer Gesellschaft und unserer Zeit, alle diese Gesichter mit Doppelkinn und hängenden Wangen, mit zu dicken Gliedern und hervorstehendem Unterleib sprechen laut von einem Leben voll Ausschweifung. Und wie sollte dies anders sein?

Man frage, was der hauptsächliche Beweggrund ihres Lebens ist, und so seltsam uns das erscheinen mag, die wir gewohnt sind, unsere wahren Interessen zu verbergen und so gern wir Winkelzüge anwenden - die hauptsächliche Triebfeder der meisten Menschen unserer Gesellschaft und unserer Zeit - ist die Befriedigung des Gaumens, die Lust zu essen, die Gefräßigkeit. Von den Ärmsten bis zu den Reichsten ist die Gefräßigkeit, glaube ich, das hauptsächlichste, größte Vergnügen unseres Lebens.

Das arbeitende Volk macht nur insoweit eine Ausnahme, als die Not es verhindert, sich dieser Leidenschaft voll hinzugeben. Sobald es aber Zeit und Mittel hat, wie die gehobene Klasse wird es sich die angenehmsten Speisen verschaffen und essen und trinken, soviel es kann."

Tolstoi beschreibt den Sinn des Lebens für den normalen Menschen unserer Zeit. Je mehr man essen kann, desto mehr hält man sich für glücklich, für stark und auch für gesund. Und selbst die so genannten Gebildeten bestärken die so genannten Ungebildeten in dieser Überzeugung.

Hört man die Gespräche der höheren Klasse, für welche Themen sie sich interessiert: Philosophie, Wissenschaft, Kunst und Poesie und die Frage der Verteilung der Reichtümer, darüber hinaus das Wohl des Volkes und die Erziehung der Jugend. In Wahrheit aber ist das meiste nur Heuchelei. Sie denken nur wenig über diese Themen nach. Was Frauen und Männer wirklich interessiert, ist das Essen. Wie wird man essen? Was? Wann und wo?

Es gibt keine Feierlichkeiten, keine Feste, keine Einweihungen ohne Festessen. Es gibt keine Reisen, keine Besuche von Museen, Bibliotheken, Parlamenten, ohne dass die Frage des Essens im Mittelpunkt stünde.

Könnte man den meisten Menschen auf den Grund ihrer Seele sehen, um zu erfahren, was sie sich am meisten wünschen, so würde man entdecken, dass dort der nie zu stillende Appetit sitzt.

Und im Alltagsleben äußert es sich so, dass das Hauptthema aller Frauen aller Schichten, sich um die Zubereitung des Essens dreht. Die reichen Leute sprechen nur deshalb nicht dauernd von diesem Thema, weil sie dafür ihre Leute haben, die dafür sorgen, und nicht etwa, weil es für sie Wichtigeres im Leben gäbe.

Aus welchem Anlass auch die Menschen immer zusammenkommen, ob zu einer Taufe, einer Hochzeit, einem Begräbnis, einer Einweihung einer Kirche oder sonstigen Gebäudes, einer Versammlung, einem Jahrestag, dem Geburts- oder Todestag eines großen Gelehrten, Moralisten oder Denkers, wo man glauben sollte, dass höhere Interessen eine Rolle spielen, immer ist das alles nur ein Vorwand. Alle wissen, dass man wieder einmal gut speisen und trinken wird, und das führt sie zusammen.
Schon mehrer Tage vor dem Fest werden Tiere geschlachtet, man bringt Körbe von Nahrungsmitteln, Köche und ihre Gehilfen werden zusammengerufen, ein Küchenchef gibt seine Befehle, die Köche hacken, kneten, waschen, zerteilen und richten alles auf das Originellste an.

Die Gefräßigkeit verdrängt so sehr den wirklichen Anlass, dass zum Beispiel das Wort Hochzeit stärker das Fest als die Eheschließung zweier Menschen assoziiert.
Das Volk sucht dieses Gefühl, der Freude am Essen und Trinken wenigstens nicht zu verheimlichen, während in den gehobenen Kreisen so getan wird, als wäre das Essen zweitrangig. Setzt man aber gerade in diesen Kreisen einmal ein einfaches Essen auf den Tisch, dann wird man an den Äußerungen, die diesem Ereignis folgen, sehen, wie stark die Gefräßigkeit Hauptmotiv der Zusammenkunft war.

"Die Befriedigung des Bedürfnisses hat Grenzen, aber das Vergnügen nicht. Um den Magen zu befriedigen, genügt es, Brot, Grütze oder Reis zu essen, während man zum Vergnügen Saucen oder andere Zutaten ohne Ende nötig hat."

Tolstoi mokiert sich über Anschauung des Menschen, was nahrhaft und gut zu essen sei:

"Das Brot ist eine notwendige Nahrung, die ausreicht, um Kraft zu geben. Dies beweisen die starken, schlanken, gesunden, schwer arbeitenden Menschen, die nur von Brot leben.

Aber es ist besser, das Brot mit einem anderen Nahrungsmittel zu essen, und es ist noch besser, es in einer Fleischbrühe aufzuweichen.

Doch kann man diese Nahrung noch verbessern, wenn man in die Fleischbrühe Gemüse verschiedenster Art hinein gibt.

Dann ist es auch gut, Fleisch zu essen, doch nicht nur gekochtes Fleisch, sondern besser in Butter gebratenes Fleisch mit Senf und das alles dann mit Rotwein zu begießen.

Man hat zwar keinen Hunger mehr, aber man kann noch Fisch mit Sauce essen und Weißwein dazu trinken.

Endlich, wenn man keine fetten Speisen mehr essen kann, dann genehmigt man sich aber doch noch das Dessert: Im Frühjahr Eis, im Winter Kompott, Konfekt und ähnliches.

Das ist noch ein bescheidenes Diner. Das Vergnügen dieses Mahls kann noch gesteigert werden, und das wird auch meistens getan, wenn appetitanregende Zwischenspeisen aller Art gereicht werden. Um schließlich auch das Auge und das Ohr zu befriedigen, werden Blumen und Schmuckstücke auf die Tafel gestellt und lässt man Musik spielen.

Und sonderbarerweise sind die Menschen, die sich tagtäglich solche Mahlzeiten genehmigen, verglichen mit denen das Fest des Belsazar - das eine göttliche Drohung hervorgerufen hat - nichts ist, der naiven Überzeugung, das sie bei alledem ein moralisches Leben führen."


Mit Methode fasten

Für Tolstoi ist das Fasten eine notwendige Vorbedingung für ein moralisches Leben. Aber selbst wenn man dieser Überzeugung ist, tut sich doch die Frage auf, wie man fasten soll. Denn genauso wie man mit Methode arbeiten muss, wenn man ein gutes Resultat erzielen will, so muss man auch mit Methode fasten, wenn man erfolgreich sein will. Aber er stellt fest, dass dieser Gedanke den meisten Menschen lächerlich erscheint.

"Ich erinnere mich, mit welchem Stolz ein Evangelischer, der gegen das Klosterleben eiferte, mir sagte: 'Unser Christentum liegt nicht im Fasten und in Entbehrungen, sondern im Beefsteak, allgemein gehen Christentum und Tugend mit dem Beefsteak zusammen.'

Während der langen, finsteren Zeit ohne alle heidnischen und christlichen Führer sind in unser Leben so viele wilde, unmoralische Begriffe eingedrungen, besonders auf dem niedrigen Gebiet des ersten Schritts zum moralischen Leben - in der Frage der Ernährung, welche von niemand beachtet wurde - dass es uns sogar schwer fällt, zu begreifen, welche Dreistigkeit und Torheit darin liegt, in unserer Zeit von der Übereinstimmung des Christentums und der Tugend mit dem Beefsteak zu sprechen.
Man hat keinen Abscheu davor, weil man sieht, ohne zu sehen, und hört, ohne zu verstehen.

Es gibt keinen so abscheulichen Geruch, an den der Mensch sich nicht gewöhnte, es gibt kein Geräusch, dem sein Ohr sich nicht anpasste und keine Abscheulichkeiten, die man nicht endlich mit Gleichgültigkeit zu betrachten lernte. So kommt es, dass man nicht mehr bemerkt, was einem Menschen, der noch nicht daran gewöhnt ist, auffällt. Ebenso ist es auf moralischem Gebiet."

Hier beweist Tolstoi an Hand eines eigenen Erlebnisses wie die Gewohnheit den Menschen verrohen lässt.

"Ich habe in letzter Zeit in der Stadt Tula die Schlachthäuser besucht. Sie sind nach einem neuen vervollkommneten Plan erbaut, wie in allen größeren Städten, damit die Tiere so wenig wie möglich zu leiden haben. Schon lange, seitdem ich das hervorragende Buch ."Ethics of Diet" gelesen hatte, wollte ich die Schlachthäuser besuchen, um mich selbst durch den eigenen Augenschein zu überzeugen, worum es sich eigentlich handelt, wenn man von der fleischlosen Ernährung spricht. Immer aber hatte ich ein Gefühl, dass das Leid zwar vorhanden ist, dass man es aber nicht verhindern kann. Deshalb verschob ich immer wieder meinen Besuch.

Vor kurzem aber begegnete ich auf der Straße einem Fleischer, der sich nach Tula begab. Es war ein Hilfsarbeiter und seine Arbeit bestand darin, die Tiere abzustechen.

Ich fragte ihn, ob er die Tiere nicht bedauere, die er schlachten sollte. 'Wieso bedauern?' fragte er. "Es muss ja sein."

Als ich ihm sagte, dass es keineswegs notwendig sei, Fleisch zu essen, dass dies nur ein Luxus sei, da gestand er mir, dass es in der Tat bedauerlich sei, die Tiere zu schlachten. "Aber was soll ich machen? Man muss doch leben. Anfangs fürchtete ich mich auch, zu töten, mein Vater hat in seinem Leben nie ein Huhn abgeschlachtet."

Tatsächlich widerstrebt es den meisten Russen zu töten. Sie haben Mitleid und drücken dieses Gefühl durch das Wort 'fürchten' aus. Der junge Mann fürchtete sich auch, aber das hörte dann auf. Er sagte mir, das größte Geschäft sei immer freitags, dann dauere die Schlachterei bis zum Abend.

Neulich hatte ich ein Gespräch mit einem Soldaten, der Fleischer war. Auch dieser war sehr erstaunt über meine Bemerkung, dass es doch bedauerlich sei, zu töten. Auch er erwiderte, das sei doch notwendig, gestand aber schließlich, dass er es doch bedauerlich finde und fügte hinzu: "Besonders wenn das Tier willig und zahm ist, und das arme Ding so voll Vertrauen geht, dann hat man großes Mitleid."


Tolstoi kann es nicht begreifen, dass der Mensch ohne alle Notwendigkeit sein Gefühl der Teilnahme und des Mitleids für andere Lebewesen zum Schweigen gebracht hat und sich selbst solche Gewalt antut, um grausam zu sein. Denn wie tief liegt im Herzen des Menschen das Verbot, ein lebendes Wesen zu töten.
Ein anderes Erlebnis zeigt das innere Aufbäumen selbst eines verrohten Menschen gegen die Barbarei der Tierschlachterei:

Nun folgt die Beschreibung
seines Besuches im Schlachthaus zu Tula

"An einem Freitag begab ich mich nach Tula. Ich begegnete einem guten, vernünftigen Menschen, der mir bekannt war, und ich bat ihn, mich zu begleiten. 'Ja. ich habe gehört, das sei alles sehr gut eingerichtet, und ich wollte es auch sehen, aber wenn man heute schlachtet, gehe ich nicht hin.'
‚Warum nicht? Das will ich ja eben sehen. Wenn man Fleisch isst, muss man auch sehen, wie man schlachtet.' 'Nein, nein, ich kann nicht', rief er.
Und dabei ist dieser Mensch ein Jäger und tötet selbst. Er war nicht dazu zu bewegen.
Wir kamen ans Schlachthaus. Am Eingang bemerkte man schon einen unangenehmen, widerlichen, fauligen Geruch, wie nach Tierleichen. Je weiter wir kamen, desto stärker wurde dieser Geruch. Das Schlacht-haus war ein sehr großes, gewölbtes Backsteingebäude mit hohen Schornsteinen. Wir traten durch die große Pforte ein. Rechts war ein großer Hof, mit einer Hecke umgeben, etwa 1/4 Hektar groß. Das war der Ort, wo man an zwei Tagen der Woche das verkaufte Vieh zusammen trieb. Am Ende des Hofes befand sich das Häuschen des Pförtners. Zur Linken standen zwei Schuppen mit Spitzbogentüren, der Fußboden war mit Asphalt bedeckt und bildete einen Eselsrücken. Besondere Anstalten waren getroffen, um die getöteten Tiere aufzuhängen.
Vor dem Wächterhaus zur Rechten saßen auf einer Bank sechs Fleischer mit blutbefleckten Schürzen, die gleichfalls blutigen Hemdsärmel waren unten umgeschlagen und man konnte ihre muskulösen Arme sehen. Seit einer halben Stunde war ihre Arbeit beendet, so dass wir diesen Tag nur den leeren Schuppen sehen konnten. Obgleich die Türen von beiden Seiten offen waren, empfand man doch einen faden Geruch nach warmem Blut. Der Fußboden war ganz braun glänzend und in den Kanälen des Fußbodens lag geronnenes Blut.
Einer der Fleischer erklärte uns, wie man schlachtet und zeigte uns den Ort, wo das geschah. Ich habe ihn nicht gut begriffen und machte mir eine falsche, aber schreckliche Vorstellung vom Schlachten. Ich glaubte, wie das oft vorkommt, dass die Wirklichkeit einen weniger peinlichen Eindruck auf mich machen werde als meine Phantasie. Aber das war ein Irrtum.

Das nächste Mal kam ich zur rechten Zeit ins Schlacht haus. Es war an dem Freitag vor Pfingsten, an einem warmen Junitag. Der Geruch nach Leim und nach Blut war stärker als beim ersten Besuch. Die Arbeit war in vollem Gange. Der kleine staubige Hof stand voll von Tieren und auch in dem Schuppen nahe dem Schlachthaus befanden sich andere Tiere.

Auf der Straße standen Karren, an welchen Ochsen, Kälber, Kühe angebunden waren.

Gut bespannte Wagen, auf welchen lebende Kälber lagen mit herabhängendem Kopf, kamen näher und wurden abgeladen. Andere Wagen mit geschlachteten Ochsen, deren Beine in die Höhe standen und den Bewegungen des Wagens folgten, mit ihren regungslosen Köpfen, roter Lunge und brauner Leber kamen aus dem Schlachthaus heraus. Bei der Hecke standen die Reitpferde, welche den Viehhändlern gehörten. Diese gingen, in ihren langen Röcken mit der Peitsche in der Hand, im Hof hin und her und bezeichneten mit Teer die ihnen gehörenden Tiere. Sie handelten über die Preise und überwachten den Transport der Tiere vom Park in den Schuppen und vom Schuppen in das Schlachthaus.

Alle waren sichtlich mit Geldfragen beschäftigt, und der Gedanke, ob es gut oder böse sei, diese Tiere zu töten, lag ihnen so fern, als der an die chemische Zusammensetzung des Blutes, das auf dem Boden umherlief.

Man bemerkte keine Schlächter auf dem Hof. Sie waren alle an der Arbeit. An diesem Tag wurden etwa hundert Ochsen geschlachtet. Ich trat in das Schlachthaus und blieb an der Tür stehen. Dort blieb ich, weil das Innere sehr beengt war, wegen der Tiere, die man hereinführte, und auch, weil das Blut von oben herabtropfte und alle Schlächter bespritzte, die sich dort befanden. Wenn ich eingetreten wäre, so wäre ich auch damit bespritzt worden.

Ein Tier wurde vom Haken herabgenommen, ein anderes wurde auf den Schienen fortgeschoben, ein drittes, ein geschlachteter Ochse, lag mit den Beinen in die Höhe auf dem Fußboden, und der Schlachter zog die Haut ab.

Durch die Tür, gegenüber der, an der ich mich befand, führte man einen großen fetten Ochsen herein. Zwei Männer zogen ihn herein.

Er hatte kaum die Schwelle überschritten, als einer der Schlächter mit einer Axt mit einem langen Stiel den Ochsen über dem Hals traf. Als ob seine vier Füße zu gleicher Zeit abgeschnitten worden wären, fiel der Ochse schwerfällig auf den Bauch, dann drehte er sich sogleich auf die Seite und zuckte krampfhaft mit den Beinen und an den Hüften. Dann stürzte sich ein Schlächter auf ihn, indem er vorsichtig die Beine vermied, ergriff ihn an den Hörnern, drückte gewaltsam seinen Kopf zu Boden, während ein anderer Schlächter ihm die Kehle abschnitt. Aus der klaffenden Wunde floss das dunkelrote Blut wie ein Springbrunnen.

Dieses wurde in einem Metallgefäß von einem ganz mit Blut bedeckten Knaben aufgefangen. Während der ganzen Zeit hatte der Ochse sich beständig gedreht und den Kopf geschüttelt und krampfhaft mit den Beinen um sich geschlagen. Indessen füllte sich das Gefäß rasch mit Blut, aber der Ochse war noch lebendig und schlug mit den Beinen um sich, so dass die Schlächter sich vorsichtig beiseite hielten. Sobald aber das Metallgefäß voll war, stellte es der kleine Junge auf den Kopf und trug es in die Albuminfabrik, während ein anderer Knabe ein neues Gefäß herbeibrachte, das sich auch sehr rasch füllte. Aber der Ochse schlug immer verzweifelter um sich.

Sobald das Blut zu fließen aufhörte, hob der Schlächter den Kopf des Ochsen auf und begann, die Haut abzuziehen. Das Tier schlug noch immer um sich. Der Kopf war ganz entblößt und ganz rot mit weißen Adern und nahm die Stellung an, die ihm die Schlächter gaben. Die Haut hing von beiden Seiten herab. Der Ochse schlug beständig um sich. Dann ergriff ein anderer Schlächter den Ochsen am Bein, zerbrach es und schnitt es ab. Auf dem Bauch liegend dauerten noch die krampfartigen Zuckungen an.

Dann schnitt man ihm die übrigen Glieder ab und warf sie alle auf einen Haufen, wo die Beine der anderen Ochsen desselben Besitzers lagen.

Darauf zog man das geschlachtete Tier zur Rolle und zog es in die Höhe, dann erst gab das Tier kein Lebenszeichen mehr von sich.

Das sah ich von der Pforte aus an.

So sah ich auch einen zweiten, einen dritten, einen vierten Ochsen schlachten, und bei allen verfuhr man auf die gleiche Weise. Immer sah ich den herabhängenden Kopf mit der Zunge, in die sich die Zähne einbissen, und das letzte Zucken. Ein Unterschied trat nur ein, wenn der Schlächter nicht auf den ersten Schlag die richtige Stelle traf, so dass das Tier nicht gleich niederstürzte. Es kam vor, dass der Schläger die Stelle verfehlte, und der Ochse sich aufbäumte, brüllte und sich blutüberströmt den Händen der Schlächter zu entreißen suchte. Dann zog man ihn unter den Balken man schlug ihn nochmals, und er stürzte.

Ich ging durch das Schlachthaus und näherte mich der gegenüberliegenden Tür, durch die die Tiere hereinkamen. Hier sah ich dasselbe nur näher und deutlicher.

Ich sah, was ich vorher von der anderen Tür aus nicht sehen konnte, nämlich das Mittel, durch das man die Tiere nötigte, hereinzukommen.

Wenn man einen Ochsen im Schuppen ergriff und mit einem an die Hörner gebundenen Strick hereinzog, so wurde der Ochse zuweilen, wenn er das Blut roch, störrisch, brüllte und drängte rückwärts. Zwei Männer hätten ihn nicht mit Gewalt hereinziehen können. Deshalb trat einer der Schlächter näher, ergriff den Schwanz des Ochsen und drehte ihn, bis er ihm den Knorpel brach, dann ging das Tier vorwärts. Die Prozedur wurde wiederholt, bis es an dem Platz stand, wo es getötet werden sollte. Immer, wenn das Tier nicht gehorchte, griff der Schlächter nach dem Schwanz, wie ein Maschinist nach der Kurbel der Maschine.

Als das Schlachten der Ochsen eines Besitzers zu Ende war, begann man mit derselben Arbeit für einen anderen.

So verfuhr man - erzählte der Dichter - mit einem zweiten, dritten, vierten Ochsen. Bei allen dasselbe grausige Schauspiel. "Immer sah ich den herabhängenden Kopf mit der Zunge, in welche die Zähne sich einbissen. Wurde die rechte Stelle nicht gleich getroffen, so bäumte sich der Ochse auf, brüllte furchtbar und suchte sich, blutüberströmt, seinen Peinigern zu entziehen. Dann kam die Prozedur des Schwanzdrehens, wodurch der Ochse unter den Balken getrieben wurde, um dort den Axthieb zu empfangen.

Das erste Tier einer neuen Herde war ein junger starker Stier mit weißen Flecken und ganz weißen Beinen, ein junges, kräftiges wildes Tier. Man zog den Strick, er aber senkte den Kopf und blieb hartnäckig stehen. Aber der Schlächter, der hinter ihm ging, ergriff wie ein Maschinist, der nach dem Handgriff des Blasebalgs greift, den Schwanz, drehte ihn, der Knorpel krachte, und der Stier stürzte vorwärts und warf die Leute, die ihn am Strick hielten, zu Boden.

Dann blieb er wieder stehen, blickte zur Seite mit seinen feurigen schwarzen Augen, aber wieder krachte der Schwanz und der Stier stürzte vorwärts. Dieses Mal befand er sich an der richtigen Stelle.

Der Schläger näherte sich, zielte und schlug. Der Schlag traf schlecht. Der Stier machte einen Satz, schüttelte heftig den Kopf, brüllte, riss sich ganz blutend los und stürzte nach rückwärts. Alle, die sich an der Tür befanden, liefen rasch zur Seite.

Aber die Schlächter waren daran gewöhnt. Mit der durch die Gefahr erworbenen Bravour ergriffen sie rasch den Strick, dann wurde der Schweif wieder gedreht, und von neuem stand der Stier im Schlachthaus. Man zog den Kopf unter den Querbalken, so dass es ihm nicht möglich war zu entfliehen. Der Schläger zielte rasch auf die Stelle, wo die Haare sich strahlenförmig trennten, und trotz des Blutes traf er sie, und das schöne, lebensvolle Tier stürzte nieder, schlug mit dem Kopf und den Beinen um sich, während man das Blut auffing und ihm die Haut abzog.

‚Ach, zum Teufel, er ist nicht einmal da gefallen wo er sollte!' brummte der Fleischer, indem er die Kopfhaut abschnitt.

Fünf Minuten später war der schwarze Kopf rot, ohne Haut, die Augen verglast; dieselben Augen, die vor kaum fünf Minuten in so schöner Farbe glänzten.
Dann begab ich mich an den Ort, wo man die kleinen Tiere schlachtete. Das war ein sehr großer Raum, dessen Fußboden mit Asphalt bedeckt war, darin standen Tische mit Randleisten, auf welchen man Lämmer und Kälber schlachtete. Die Arbeit war hier in dem langen Raum voll Blutgeruch beendigt, nur zwei Schlächter befanden sich hier. Der eine blies das Bein eines geschlachteten Lammes auf und rieb mit der Hand den aufgetriebenen Bauch des Tieres, der andere, ein junger Bursche, saß mit blutbefleckter Schürze und rauchte eine Zigarette.

Ein Mann trat hinter mir ein, der aussah wie ein verabschiedeter Soldat, und brachte ein großes eintägiges schwarzes Lamm mit, mit einem Zeichen am Hals und zusammengebundenen Beinen und legte es auf einen Tisch wie auf ein Bett. Der Soldat war augenscheinlich an diesem Ort bekannt und sagte: 'Guten Tag!' dann begann er ein Gespräch über einen Urlaub, den er vom Meister erbitten wollte. Der junge Bursche mit der Zigarette trat näher, mit dem Messer in der Hand, wetzte es am Ende der Schlachtbank und bemerkte, man habe Urlaub an den Ferientagen. Das lebende Lamm blieb ebenso unbeweglich wie das tote, aufgeblasen, nur mit dem Unterschied, dass es lebhaft seinen kurzen Schweif bewegte und die Flanken sich rascher hoben als gewöhnlich. Der Soldat stützte ohne Anstrengung den Kopf des Tieres gegen den Tisch. Der junge Schlächter ergriff, während er sprach, mit der linken Hand den Kopf des Lammes und schnitt ihm die Kehle durch.

Das Lamm warf sich hin und her, sein kleiner Schweif wurde steif und hörte endlich auf, sich zu bewegen. Während das Blut ausfloss, zündete der Schlächter seine Zigarette wieder an. Das Blut floss, und das Lamm warf sich wieder hin und her. Inzwischen wurde das Gespräch ohne Unterbrechung fortgesetzt."

Noch vieles erzählt Tolstoi vom Schlachten anderer Tiere, von der Gleichgültigkeit und der Rohheit der Menschen beim Schlachten. Es schien in ihnen alles Gefühl für das Mitleid gestorben zu sein oder zumindest war es durch die ewige Gewohnheit verstummt.

Einige junge Burschen hielten die Zigarre in der Hand, während sie mit dem Messer an das zu schlachtende Lamm traten, alsdann unterhielten sie sich beim Schlachten des Tieres.


"Was will ich beweisen?"
fragt Tolstoi,
"Vielleicht, dass die Menschen, um gut zu werden, das Fleischessen aufgeben müssen?

Keineswegs. Ich will nur zeigen, dass es notwendig ist, nach und nach die nötigen Eigenschaften zu erwerben, wenn man zu einem moralischen Leben gelangen will, und dass diejenige Tugend, die man vor allen anderen erlangen muss, die Mäßigkeit ist, und der Wille, seine Leidenschaften zu beherrschen.

Beim Streben nach der Enthaltsamkeit muss der Mensch notwendigerweise eine gewisse bestimmte Ordnung befolgen und in dieser Ordnung ist die erste Tugend - Mäßigkeit in der Nahrung, das heißt ein relatives Fasten. Und wenn der Mensch ernst und aufrichtig den moralischen Weg sucht, so ist das erste, was er aufgeben muss, die Fleischnahrung, denn außer der Aufregung der Leidenschaften infolge dieser Nahrung, ist sie auch ganz einfach unmoralisch, weil sie eine dem Gefühl der Moralität widersprechende Tat - den Mord - erfordert, und weil sie nur von der Feinschmeckerei und der Gefräßigkeit verlangt wird."

Tolstoi zitiert nun das englische Buch "The Ethics of Diet" von Howard Williams, das eine große Anzahl von Biographien bedeutender Denker enthält und auch auf deren Werke in Auszügen eingeht. Sie alle traten gegen den Genuss von Fleischnahrung auf.

Für den heutigen Menschen erstaunlich ist, dass durch die ganze Menschheitsgeschichte hindurch die besten Vertreter der menschlichen Rasse diese Ansicht vertraten.

Hier wirft Tolstoi die Frage auf: Wenn den Menschen die Immoralität und die Ungesetzlichkeit der Fleischnahrung schon so lange bekannt ist, warum ist die breite Öffentlichkeit bis heute nicht zu dieser Erkenntnis gelangt.
Diese Frage stellen sich auch diejenigen, die sich lieber nach der Meinung der Öffentlichkeit als nach ihrer eigenen Vernunft richten.

Und er beantwortet die Frage folgendermaßen: Jede moralische Bewegung, die die Grundlage jeden echten Fortschritts ist, geht langsam voran. So ist es denn auch bei der vegetarischen Bewegung. Diese Bewegung kommt sowohl in den Schriften bedeutender Denker zum Ausdruck als auch im lebendigen Beispiel der einzelnen Menschen. Und es werden immer mehr, die danach streben von der Fleischnahrung zur Pflanzennahrung überzugehen.

Dieses Erlebnis im Schlachthaus von Tula hat Tolstoi äußerst sensibel gemacht für die Diskrepanz zwischen dem menschlichen Fühlen und dem tierischen Leiden. Und er geißelt das hypochondrische Getue der feinen Damen, die sich nicht einmal die Mühe machen auch nur zu überlegen, auf wie viel Leid ihre Nahrung aufgebaut ist.

Ein anderes Mal spricht Tolstoi von der Schlachtung kleiner Haustiere. Und er beschreibt die grausige Komik, wenn diese mit abgeschnittenem Kopf noch in die Höhe springen und mit den Füssen noch fast tanzende Bewegungen ausführen.

"Und die Hennen und jungen Hühner, die zu Tausenden jeden Tag in den Küchen mit abgeschnittenem Kopf und mit Blut überströmt in die Höhe springen und mit den Füßen um sich schlagen mit schrecklicher Komik.

Und dennoch isst die Dame mit dem empfindsamen Herzen diese Geflügelleiche mit vollkommener Überzeugung von ihrem Recht, indem sie zwei sich widersprechende Meinungen ausspricht.

Die erste ist die, sie sei so zart, wie der Arzt versichert, dass sie eine ausschließliche Pflanzennahrung nicht vertragen könne, und ihr schwacher Organismus das Fleisch nötig habe; die zweite Meinung ist die, sie sei so empfindsam, dass es ihr unmöglich sei, selbst einem Tier Leiden zu verursachen und sie könne nicht einmal den Anblick dieser Leiden ertragen.

In Wirklichkeit ist diese arme Dame eben deshalb schwach weil man sie an Nahrung gewöhnt hat, welche der menschlichen Natur widerspricht, und sie kann nicht umhin, den Tieren Leiden zu verursachen, aus dem einfachen Grund, weil sie sie aufisst."


Wir müssen uns zu dem bekennen, was wir tun, denn wir können nicht sagen, wir hätten das alles nicht gewusst. Haben wir doch Verstand und Kenntnis genug, um zu wissen woher unsere Nahrung kommt.
Wenn es wenigstens nützlich wäre, Fleisch zu essen! Aber der Fleischgenuss trägt nur dazu bei, unsere tierischen Gefühle der Unmäßigkeit, der Unzucht und der Trunkenheit anzustacheln. Besonders junge Leute empfinden immer mehr, dass die "Tugend nicht mit dem Beefsteak verliehen wird". So geben sie sehr schnell die Fleischnahrung auf, wenn sie sich einmal Rechenschaft abgelegt haben.