Der größte
russische Philosoph
Den größten
russischen Philosophen Leo Nikolajevic Tolstoi (9.9.1828
- 20.11.1910) brauchen wir gerade heute, denn
seine Zeit ist gekommen. Seine Mutter brachte den
adligen Tolstois Reichtum und 800 Bedienstete.
Neunzehnjährig
nimmt er sich vor:
Immer um 5 Uhr aufzustehen, um 9 oder 10 schlafen
zugehen; wenig zu essen und Süßigkeiten
zu vermeiden; Wünsche durch Arbeit abzuwürgen.
Die Mutter starb, als er zwei, der Vater, als er sieben
Jahre alt war. Unter dem Einfluss von Rousseaus Emile
beginnt er mit 21 Jahren die Kinder der Dienerschaft
nach neuen Methoden zu unterrichten. In der Jugend
war er wie alle Adligen Jäger. Nicht umsonst
hat er soviel Blutvergießen erlebt.
Turgeniev erzählt:
"Ich hätte ihm ewig zuhören können.
Er ging in das Wesen das armen Tieres hinein und hat
mich mitgerissen. Ich musste bemerken: Leo Nikolajevic,
es kann keine Zweifel geben, dass du selbst einst
ein Pferd warst. Mit 52 Jahren tritt die wesentlichste
Wende in seinem Leben ein, als er sich aus philosophischen
Gründen für blutlose Nahrung entscheidet.
Die Jagd gibt er 1882 auf. Durch einfache Ernährung
wollte er auch gesünder leben und sich den russischen
Bauern nähern.
Seine wichtigsten
Schriften wurden nie gewürdigt. Sie sind verstreut
in den Einführungen in die Werke von Autoren,
die er selber schätzte. Eine der wichtigsten
Schriften ist seine Einführung "Der erste
Schritt" in die russische Übersetzung
"Ethik der Diät" (1892) vom Engländer
William Howard. Diese wichtigste Anthologie der
Denker und Dichter aller Zeiten über das Problem
Nr. 1 der Menschheit erschien 1883 und wurde bis heute
nur ins Russische übersetzt.
Tolstoi verzichtete
auf die Tantieme für seine Schriften, als aber
die nach seinen Lehren einfach lebenden Duchoborci
grausam verfolgt wurden hat er den Ertrag von $ 225.000
für seine "Auferstehung" 1899
an sie überweisen lassen.
Tolstoi hat damals die Duchoborci für den Nobelpreis
empfohlen. Sie leben heute in Kanada. Seine philosophischen
Vorbilder waren Platon und Plutarch. Er korrespondierte
mit George Bernard Shaw, dem ähnliche
Bedeutung für die heutige Zeit zuzumessen ist.
Gandhi schrieb
ihm aus Transvaal. Er nannte ihn den "Titan
Russlands" und unterschrieb "Ein demütiger
Anhänger Ihrer Lehre". Auch mit Rainer
Maria Rilke hatte er Kontakte. Wenn ich noch erwähne,
dass Romain Rolland eine Biographie von Tolstoi
verfasste und dass Tolstoi seine Weltanschauung in
Deutschland von der Quäker-Siedlung Sonnefeld
bei Coburg verbreitet wurde, dann können
wir noch einmal sehen, wie nur die Großen andere
Größen entdecken und würdigen.
Sein Sekretär
Bulgakov hat die friedlichen Ansichten seines
Meisters noch vor den bolschewistischen Gremien vertreten.
Bulgakov schreibt in seinem Tagebuch "Er ist
ein schrecklicher Tierliebhaber und Vegetarier. Nach
ihm sind die Tiere viel moralischer denn die Menschen.
Die Leute sollten viel mehr so sein wie die Tiere.
Ich diskutierte mit ihm und sagte, dass man sich nicht
ein Tier als Ideal nehmen kann. Der Mensch besitzt
das Schamgefühl, das Tier nicht. Der Mensch bedeckt
den ganzen Körper, außer das
Gesicht - der Ausdruck des Geistes" Das ist die
Meinung Bulgakars.
Die Tochter Tolstois Alexandra (Saa), die alle
Geschwister überlebte, richtete sich auch nach
den Prinzipien ihres Vaters aus.
Er
war ein Prophet für heute
Propheten wissen um
die Zusammenhänge. Die Massen sind nicht weise,
deswegen rennen sie von einer Katastrophe in die andere.
Die russische Kirche verfolgte alle Propheten. Es
war immer so. Hätte man auf Vladimir Soloviev
und Leo Tolstoi gehört, wäre der Welt die
größte Kalamität aller Zeiten erspart
geblieben: der blutige, freiheitsraubende Kommunismus,
installiert in Moskau durch jenen Kapitalismus, den
Tolstoi entlarvte. Ich kenne keinen Schriftsteller
der am Ende des 19. Jahrhunderts die Ursachen der
Missstände so gut durchblickt. Man könnte
auf jeden Fall bei Tolstoi (Wagner, Gandhi) lernen.
Deswegen müssen seine philosophischen Schriften
veröffentlicht werden.
In keiner Sprache
sind sie in voller Gänze auf dem Markt. Eine
lohnende Aufgabe für die Pazifisten. Menschen,
Tier - und Naturfreunde!
Ein großer Mensch
lebt nie für sich allein. Tolstoi ist uns heute
näher als vor hundert Jahren. Er genoss zu seinen
Lebzeiten das Attribut der Unsterblichkeit. Seine
wahre Bedeutung geht jedoch heute auf, nachdem man
die Nebensächlichkeiten vergessen hat.
Erst nach mühevollem
Studium wandte er sich gegen die Kirche. Er schreibt
gegen staatliche Einrichtungen, gegen die Gerichtsbarkeit,
gegen die barbarische Institution der Kriege - nachdem
er sich mit Staatslehre und Politik eifrig beschäftigt
hat. Seine dichterische Kraft kommt seiner Ausdrucksfähigkeit
zu Hilfe. So entsteht ein großes Ideensystem,
ausgebaut in den feinsten Teilen, eine Mosaikarbeit,
wo ein Gedanke sich logisch an den anderen reiht.
Sein philosophisches System ist verständlich
und schön. Er hat das Wichtigste zu Ende gedacht,
deswegen kann er es einfach, schön und auch literarisch
gut ausdrücken. Sein von Humanität durchwehtes,
machtvolles Lehrgebäude ist gekleidet in die
Form eines Kunstwerkes "das seinen eigenen Maßstab
der Bewertung herausfordert"
So hat ihn Theodor von Geletzki erkannt. Er
hat 1906 gemeint, dass ihm die Höhe Luthers
zusteht, falls seine Lehren in der Zukunft wenigstens
teilweise greifbare Formen annehmen. "Denn
was ein großer Mensch schreibt, hat immer Bedeutung,
selbst wenn Fehler unterlaufen, und nicht alles so
leicht ausführbar ist, wie es dem Schöpfer
erscheint".
Der
reife Tolstoi geht von der christlichen Lehre aus
Das Christentum bildet
das Zentrum all seiner Bestrebungen und Verkündigungen;
ein echter, wahrer Christ zu sein, ist sein eigenes
Ideal geworden.
Und dieses Ideal lautet: Auf Grund des Meisters richtigen
Verständnisses der Heilslehre durch Reform der
bestehenden Kirchenlehren, Umwandlung der bestehenden
Ordnung, soll eine Art von Menschen-Veränderung
erreicht werden, wo der Mensch, seiner Würde
sich wieder bewusst, nicht mehr eine leichte Beute
aller Laster ist, die ihn daran hindern, ein moralisches
Leben zu führen, - sondern durch Selbstzucht
und Enthaltsamkeit wieder dahin gelangt, Tugenden
wie Großmut, Liebe, Uneigennützigkeit und
Gerechtigkeit im höchsten Maß auszuüben.
Tolstoi erkennt schon eine Ungerechtigkeit darin,
dass wir, an Luxus und Wohlleben gewöhnte Menschen,
zu eigenem Ergötzen, zu eigener Bequemlichkeit
Nutzen ziehen aus der Arbeit anderer Menschen, sie
zu Arbeitssklaven machen, damit wir uns allerhand
Genüsse verschaffen können. Wer viel
Geld hat, kann andere durch Zinsen ausbeuten.
Es ist für uns
wichtig zu wissen, dass Tolstoi diese Erkenntnisse
in die Tat umsetzen kann. Er kleidet sich einfach,
verweigert jegliche Mitarbeit bei den Gerichten, tritt
aus der Kirche aus, und nimmt nur noch unblutige Speise
zu sich, im Wissen und Kenntnis der wahren Lehre der
Religionsstifter und Philosophen. "Ich habe begriffen,
sagt er, worin mein Wohl besteht, und kann deshalb
nicht das tun, was mich meines Wohles beraubt."
Die Reichen wollten ihn nicht verstehen. Diese Leute
glaubten zwar, lebten aber weiter gedankenlos und
im Überfluss.
Die Befriedigung ihrer
Wünsche ging ihnen über alles. Ein solcher
Glaube konnte nicht der richtige sein. Es handelte
sich nur um Snob, Mode, Prahlerei. Da wandte er sich
an das einfache Volk. Hier herrschten schwere Arbeit
und Zufriedenheit, anstatt der Schwelgerei und des
Überdrusses der vornehmen Klassen. "Und
ich gewann diese Menschen lieb. Je tiefer ich in ihr
Leben eindrang, in das der Lebenden, wie der Verstorbenen,
von denen ich gelesen und gehört hatte, desto
mehr gewann ich sie lieb, und desto leichter wurde
es mir selber zu leben." Er sah, dass es zwei
Klassen von Menschen gibt: die Ausbeuter und die Ausgebeuteten.
Gute Menschen traf er nur in der zweiten Klasse.
"Das Leben des
gesamten ausgebeuteten Volkes, der ganzen Menschheit,
die das Leben schafft, stand klar vor mir in seiner
wahren Bedeutung. Ich hatte erkannt: das ist das Leben
selbst."
Dichter und Denker
von der Bedeutung Tolstois kamen auf die Idee, dass
man wahre Kultur nur durch die Vereinfachung der materiellen
Bedürfnisse schaffen kann, speziell im Essen
und Trinken. Er sagt wieder-holt, dass nach der Lehre
Platons und der - klassischen Philosophen das wahre
menschliche Leben mit der Enthaltsamkeit beginnt:
Diese erste Speise allein führe zum moralischen
Leben. Fresser, aus-schweifende, entnervte Menschen,
alle die Müßiggänger der oberen Zehntausend
könnten kein moralisches Leben führen. Der
Schlemmer verfrisst das Brot der Armen, wie schon
Chrisostomos lehrte, weswegen auch er verfolgt wurde.
"Vom Standpunk der Gerechtigkeit und der Humanität
ist das heutige allgemeine Schwelgen ein verwerfliches,
verweichlichendes, unsittliches (einfügen?: Verhalten)."
Der größte Wert der Enthaltsamkeit aber
liegt darin, dass auch die Armen lernen könnten,
wie wenig man bracht um satt zu werden.
Platon lehrte,
dass das erste Anzeichen des Untergangs eines Kulturstaates
der Anzahl der Köche zu entnehmen ist. Keinem
der reichen, sich moralisch dünkenden Menschen
fällt es ein, sich auszurechnen, welche Unsumme
von Arbeit, Wasser, Rohstoffen dazu gehört, um
all das zu produzieren, was er für sein Leben
benötigt.
Um ein guter Mensch
zu sein, muss man bloß aufhören, Böses
zu tun. Es ist eine einfache Sache der Gerechtigkeit.
Jahrhunderte lang ertönte in den russischen Kirchen
"Gospodi pomylui", im Westen "Kyrie
elsyson" und heute "Herr, erbarme dich
unser".
Man muss selber
barmherzig sein, wann man auf Erbarmung hoffen will.
Die Enthaltsamkeit beginnt beim Nichtschaden anderer
Geschöpfe. Das hat Tolstoi als die wichtigste
philosophische Lehre erkannt und gelebt. Er sagt,
dass die Enthaltsamkeit den Menschen von unreinen
Begierden befreie. "Die größter Feinde
der Enthaltsamkeit sind Gefräßigkeit und
Feinschmeckerei. Beide führen ein ganzes Heer
von Lastern mit sich. Der äußere Erfolg
ist immer der gleiche: es entstehen Menschen mit
übervollem Körper, mit Doppelkinn und hängenden
Wangen, mit unförmigen Gliedmassen, hervorstehendem
Bauch. Man kann versichert sein: das ist ein Mensch,
der sich selbst liebt, sich selbst lebt, und für
andere nur so viel übrig hat, als die Anschauung
der Welt dies fordert."
Zeitweiliges FASTEN
ist für Tolstoi ein Gebot der Mäßigkeit,
und diese führe zu einem moralischen Leben. Je
mehr sich der Mensch dem Gebot des Fastens fügen
lerne, desto mehr werde er der geistigen Interes-sen
des Lebens einen ernsthafteren Geschmack abgewinnen
und aus einem materiellen zu einem geistigen Menschen
gedeihen.
Der Philosoph verwirft
das Tiereessen weil er es mit dem Mitleid, der höchsten
und natürlichsten Empfindung unvereinbar hält,
anderen Lebewesen, die dasselbe Recht zum Dasein haben,
wie der Mensch, das Leben gewaltsam zu rauben.
Wir wollen mit
Absicht Vieles von Tolstoi erwähnen, anführen
und zitieren, damit dem Leser unmissverständlich
klar wird, dass dieser russische Titan die Ursache
der Kriege entdeckt hat, und
dass wir auf den Frieden hoffen können, wenn
wir diese Zusammenhänge begriffen haben. Platon
fand dasselbe.
Wir kommen später
noch zur Bedeutung der falschen Lehren, die sich im
Namen des Christentums verbreitet haben, und das allgemeine
Blutvergießen ermöglichten.
Tolstoi ist ein Philosoph und er geht den Ursachen
nach. Die Philosophie ist die Suche nach den letzten
Ursachen. Keine Therapie ist möglich, wenn man
die Ursachen nicht kennt und nicht beseitigt. Er hat
nicht nur einmal und nicht nur oberflächlich
behauptet, dass es Schlachtfelder geben wird, so lange
es Schlachthäuser gibt. Die Grausamkeit will
im Kleinen gelernt werden.
Tolstoi freut sich
über die Tatsache, dass sich in Amerika, England
und Deutschland seinerzeit die blutlose Diät
und die Literatur darüber sehr verbreitete. In
jener Zeit gab es viele Restaurants, die das blutlose
Abendmahl anboten, für den Dichter ein Anzeichen,
dass das Reich Gottes irgendwann verwirklicht werden
könnte. Die Rückkehr in den gottgeplanten
und gottgewollten Zustand, ist der Leitgedanke des
Meisters. Obwohl er sich an das Wort Ethik hält,
den Tiermord aus rein ethischen Gründen, die
Fleischnahrung aus moralischen Gründen verwirft,
das Mitleid als das höchste ethische Empfinden
preist, so ist im Hintergrund immer das Verlangen
zu spüren, alle diese Forderungen als das Wesen
der christlichen Gebote hinzustellen. Er hatte wohl
mit einer Gesellschaft zu tun, die meinte christlich
zu sein. Tolstoi hat eben an vielen Stellen betont,
dass das Christentum nichts Neues bedeutet und dass
die Sozialisten den Frieden eher verwirklichen werden
als die Christen.
Auf's
Land, auf's Land
Das Gros der Arbeit,
meint er, müsste aus der Stadt ins Grüne
verlagert werden. Der erste und einzig notwendige
Beruf des Menschen ist der des Gärtners (Rousseau
und Essener). Erst, wenn man selbst, auf eigener
Scholle die Nahrungsmittel ziehen kann, wird er auch
andere Tätigkeiten mit Erfolg ausüben können.
Leo Tolstoi erklärt
das Mitleid für eines der höchsten ethischen
Gebote des Menschen. Schon mit Wagner beginnt
das Zeitalter und die Religion des Mitleids. Das Mitleid
ist dem Menschen angeboren, es liegt ihm tief im Herzen
und verbietet ein lebendes Wesen zu töten. (Genau
dasselbe erkannte Henry Thoreau). Tötet er doch,
so gibt es keine andere Erklärung, als dass er
mit Gewalt dieses höchste Gefühl zum Schweigen
bringt, seinem besseren Selbst Gewalt antut, um eine
unerhörte Grausamkeit zu begehen.
Ohne Mitleid entzieht
sich der Mensch überhaupt jeder Möglichkeit,
mit anderen Lebewesen friedlich in Gemeinschaft zu
leben. Das Mitleid, die erbarmende Liebe, so Tolstoi,
sollte immer sich gleich bleiben, ob es für einen
anderen Menschen empfunden wird oder für ein
Tier, ein Pferd, einen Ochsen oder eine Ameise oder
Fliege. Jedem Geschöpf ist das Leben gleich lieb,
weder Mensch noch Tier möchten es ohne Not einbüßen.
"Einem Tier den Bauch aufzuschlitzen, den
Kopf an einen Baum zu zerschmettern, es in Stücke
zu zerreißen, das sind die gewöhnlichsten,
notwendig scheinenden Ausübungen auf der Jagd.
Ein jeder begeht Untaten,
für welche er die Straßenjungen ausschimpfen
oder verprügeln würde, wenn er die Frevel
an Tieren verübt sähe, die man nicht als
'Wildpret' anerkennt". Als Jäger hat er
einmal einen Wolf angeschossen und dann mit einem
großen Knüppel totgeschlagen, indem er
ihn an die Nasewurzel traf. Tolstoi sagt, der Wolf
habe ihm gerade in die Augen gesehen und bei jedem
Schlag einen erstickten Seufzer ausgestoßen.
Am Abend im Bett hätte er zuerst nur Vergnügen
gespürt, dann aber wurde dieses durch das Gefühl
einer strafbaren Handlung ersetzt. "Ich konnte
es nicht loswerden, was ich auch dagegen sagte. Das
Vergnügen war ganz miserabel, und noch miserabler
die Ausrede." Die Beschönigung war etwa
die Folgende: Der Wolf ist ein Raubtier, das andere
unschuldige Wesen vernichtet. Durch seinen Tod geschieht
ihm nichts Unrechtes. Nun könnte aber der Wolf
sagen: Die Hasen fressen mit dem Kohl viele Insekten
auf, verdienen also ihr Schicksal - ebenfalls gefressen
zu werden. Da hätten wir den Sophismus! Somit
meint man das Unbequeme aus dem Weg geschaffen zu
haben.
Diesem Tiermord
aus reinem Vergnügen, wie er bei der Jagd geübt
wird, steht nun der staatlich konzessionierte Tiermord
in den Schlachthäusern als würdiges Gegenstück
gegenüber. In lebendigen, teilweise erschütternden
Bildern beschreibt der Dichter die Grausamkeiten und
das Entsetzliche dieser Tierschlachtungen. Er führt
uns in die Schlachthäuser von Tula, beschreibt
mit der nur ihm eigenen lebendigen An-schaulichkeit
die Einrichtungen der Gebäude, das Heranfahren
der Tiere, das Benehmen der Karrenführer, Händler,
Schlächter, die Gleichgültigkeit und Rohheit
der Schlächtergesellen, die ihre amüsanten
Gespräche fortsetzen, während sie ein Kalb
oder ein Ferkel mit mechanischem Gleichmut abschlachten.
In weiteren Betrachtungen
ergeht sich der Dichter über
das Widerspruchsvolle der menschlichen Natur. Hier
ein Erlebnis Tolstois, das ihn tief berührte.
Später wird noch mehr darüber zu lesen sein.
Tolstoi fährt
mit einem kräftig gebauten, plumpen etwas
trunksüchtigen Bauern durch ein Dorf, wo
man gerade ein Schwein schlachtet. Das Tier
schrie mit menschenähnlicher Stimme, man
fuhr ihm gerade mit dem Messer über die
Kehle. Das Geschrei wurde immer lauter, kreischender.
Schließlich riss es sich, blutüberströmt,
los und raste, verzweifelt schreiend, davon.
Der rohe Kutscher,
der das ansah, schlug mechanisch das Kreuz und
rief aus: "Gibt es keinen Gott mehr?"
Dieser Ausruf
- so sagt der Dichter - der ganz instinktiv
getan wurde, zeigt deutlich, dass der tiefe
Abscheu vor dem Mord, auch dem Tiermord, in
des Menschen Herz verborgen ruht, und dass wir
ihn nur ersticken, weil der Verstand hier dem
Mitleid keinen Raum lassen will, so wie wir
ja auch die Stimme des Gewissens betäuben
oder ersticken, immer dann, wenn uns die Vernunft
solches als probat anempfiehlt.
Auch der Antrieb der Gefräßigkeit
beim Menschen und die Behauptung, alles das
sei von Gott erlaubt, und vor allem die Gewohnheit
bringen dieses natürliche Gefühl im
Menschen vollkommen zum Schweigen."
|
Noch manche Beispiele führt der Dichter an, um
uns den Mangel an Logik zu beweisen. Wer ernst gegen
solche Widersprüche ankämpfen, ernst eine
Reform anbahnen will, der muss sich vor allem Eigenschaften
anschaffen, die zur Tugend führen, wie: Selbstbeherrschung,
Enthaltsamkeit - Mäßigkeit in der Nahrung,
fleischlose Kost, zeitweises Fasten. Die Fleischnahrung,
so sagt Tolstoi, sei vor allem gefährlich für
das ernste Streben nach Tugend, da sie eine Aufreizung
unserer Leidenschaften zur Folge habe.
Der
erste Schritt - von Leo Tolstoi
Jedes Handeln des
Menschen sollte Methode haben, sonst kann er seine
Ziele, die er anstrebt, nicht erreichen. Dieses Prinzip
gilt sowohl für den materiellen als auch für
den immateriellen Bereich. Genauso wie der Bäcker
kein Brot backen kann, wenn er nicht vorher den Teig
geknetet hat, und den Ofen angeheizt hat, so kann
auch der Mensch, der sich moralisch entwickeln will,
sein Ziel nur erlangen". wenn er sich moralische
Eigenschaften anerzieht Dabei muss er nach einem System
vorgehen, und mit grundsätzlichen Dingen beginnen.
Schon die chinesischen
Weisen lehrten, dass es eine Stufenleiter von der
Erde zum Himmel gäbe, die man nur so erklimmen
könnte, indem man mit der untersten Stufe begänne.
Die gleiche Regel kannten auch die Brahmanen, die
Buddhisten, die Anhänger des Konfuzius sowie
die weisen Lehrer Griechenlands.
Alle moralischen Menschen,
waren sie nun gottgläubig oder materialistisch
ausgerichtet, haben anerkannt, dass es ein methodisches
Vorgehen bei der Aneignung moralischer Grundwerte
gebe. Doch wie eigenartig ist es, dass seit der Zeit,
da die Kirche das Christentum vereinnahmt hat, dieses
Bewusstsein verschwunden ist.
Immer mehr kam die Meinung auf, ein Mensch könne
höhere Qualitäten erlangen ohne vorher die
Voraussetzungen für diese Qualitäten zu
schaffen. Ja, es kam sogar zu der Ansicht, dass ein
Mensch sowohl sehr hohe Tugenden besitzen könne,
obwohl er gleichzeitig ein äußerst lasterhaftes
Leben führte.
Diese Ansicht beweist, dass dem heutigen Menschen
der Begriff für ein moralisches Leben ganz abhanden
gekommen ist.
Der
Werdegang der Entartung
Die Entartung der
Moral ist nach Tolstois Ansicht folgendermaßen
entstanden:
Das Christentum hat die klassische Philosophie immer
mehr verdrängt. In den Anfängen war auch
die christliche Moral noch anspruchsvoll und lehrte
die Erlangung der Vollkommenheit in mehreren Stufen.
Jedoch die Mehrzahl
der Christen betrachteten die Lehre Christi immer
mehr als eine Lehre der Erlösung, und nicht so
sehr als eine Hilfe auf dem Weg zur Vollkommenheit.
Zum Beispiel fassten die Katholiken und die Orthodoxen
den Wert des Christentums als Loskauf von der Sünde
durch die göttliche Gnade auf, wobei die Kirche
eine Vermittlerrolle einnahm.
Die Folge war, dass
Ernst und Aufrichtigkeit der Menschen gegenüber
der christlichen Moral zunehmend schwanden. Die Vertreter
der Kirchen predigten zwar, dass ihre Heilsmittel
den Menschen nicht hindern würden, nach einem
moralischen Leben zu streben, doch es zeigte sich,
dass die Menschen, die sich dem Glauben an die Erlösung
überließen, keine eigenen Anstrengungen
mehr unternahmen um vollkommen zu werden. Denn es
war ja viel einfacher, sich dem Dogma der Erlösung
zu unterwerfen, als sich selbst auf den Weg zur Vervollkommnung
zu begeben.
Die
Kirchen oder das Ende der Moral
In der kirchlichen
Lehre lag die Hauptursache für die Erschlaffung
der Sitten. Warum sollte man sich zu guten Gewohnheiten
zwingen und sich bestimmter Freuden enthalten, wenn
das Resultat doch dasselbe sein würde.
Tolstoi zitiert die
Enzyklika des Papstes Leo XIII "Rerum novarum"
(1891), in der er über den Sozialismus spricht.
Darin heißt es: "Niemand ist verpflichtet,
sich oder seiner Familie das Nötigste zu nehmen,
oder sich in dem zu beschränken, was die weltliche
Lebensweise verlangt, um damit seinen Nächsten
zu unterstützen. Niemand soll im Widerspruch
mit der Konvenienz leben."
"Aber wenn den Bedürfnissen und dem äußeren
Anstand Genüge geleistet ist, so ist es Pflicht
eines jeden, den Überfluss den Armen zu geben."
Tolstoi entlarvt dies
als egoistische Lehre, dem Nächsten zu geben,
was man nicht nötig hat, und er zeigt die Widersprüchlichkeit
der kirchlichen Lehre auf, wenn sie doch an anderer
Stelle die Worte des Apostels Paulus, 1. Korintherbrief,
Kap.13, "Das größte ist die Liebe"
ständig predigt.
"Obgleich in
der ganzen neutestamentlichen Lehre immer wieder zur
Selbstverleugnung ermahnt und gelehrt wird, diese
Tugend sei die erste Vorbedingung zur Erreichung der
christlichen Vollkommenheit" obwohl gesagt wird:
"Wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt, wer nicht
Vater und Mutter verleugnet (meistens wehren sich
Vater und Mutter dagegen, wenn wir Vegetarier werden),
wer nicht sein Leben einsetzt... wollen diese Leute
doch andere überreden, um den Nächsten zu
lieben, sei es nicht nötig, aufzuopfern, was
man nicht gewöhnt ist, und es genügt, zu
geben, was man für gut findet."
Erster
Grundsatz jeder Moral
Schon Sokrates war
der Ansicht, dass die erste Tugend, die man sich aneignen
müsse, die Enthaltsamkeit ist. Ohne sie kann
man kein moralisches Leben aufbauen.
"Es ist doch einleuchtend, dass der Mensch, der
sich nicht zu beherrschen vermag, die leichte Beute
aller Laster wird und dass es ihm unmöglich ist,
ein moralisches Leben zu führen. Ehe der Mensch
an Großmut, an Liebe, an Uneigennützigkeit
und an Gerechtigkeit denkt, muss er lernen, sich zu
beherrschen."
Die herkömmliche
Meinung ist, dass dies alles überflüssig
sei. Man meint, der Mensch könne absolut ein
moralisches Leben führen, auch wenn er sich seinen
Neigungen für Luxus und Vergnügungen hingäbe.
Doch muss jeder anerkennen, dass derjenige, der die
Arbeit, und oft die mühevolle Arbeit anderer
zu seinem eigenen Vergnügen ausbeutet, schlecht
handelt. Er muss mit dieser Gewohnheit brechen, wenn
er so leben will, wie es sich gehört. Es hat
auch noch unangenehme Folgen, wenn er so weiterlebt.
Denn die Menschen, die er ausbeutet, werden mit Neid
und Unlust für ihn arbeiten und nur auf eine
günstige Gele-genheit warten, um sich aus ihrem
Joch zu befreien.
Auch ist es äußerst ungerecht, sich an
der Arbeit von Menschen zu bereichern, die sich nicht
den hundertsten Teil der Genüsse leisten können,
die sich derjenige verschafft, der sie für sich
arbeiten lässt.
Vom Standpunkt der christlichen Liebe aber ist es
weit entfernt, andere für sich schuften zu lassen,
anstatt mit ihnen zusammenzuarbeiten.
Konsumdenken
In unserer Gesellschaft
werden diese Forderungen nach Gerechtigkeit und Liebe
vollkommen missachtet. Das Anheizen von Bedürfnissen
gilt als wünschenswert und wird als das Anzeichen
der geistigen Entwicklung unserer Zivilisation gewertet.
Sogar so genannte gebildete Menschen meinen, dass
die Gewöhnung an Bequemlichkeit ein Zeichen moralischer
Tugend sei. Je mehr Bedürfnisse, desto mehr werden
diese Bedürfnisse verfeinert.
Erziehung
Die Ursache, dass
man den Kindern und überhaupt dem heutigen Menschen
das klassische Enthaltsamkeitsideal und die urchristliche
Selbstverleugnung nicht als gute uns wünschenswerte
Eigenschaften hinstellen kann, liegt in unserem System
der Erziehung. Anstatt die Kinder stark und mutig
zu machen, verweichlicht man sie und gewöhnt
sie an Müßiggang.
An dieser
Stelle illustriert eine Geschichte die Gedanken
Tolstois:
"Eine Frau,
welche von einer anderen beleidigt wurde und
sich an ihr rächen will, stiehlt dieser
ihr einziges Kind. Sie geht mit ihm zu einem
Zauberer und fragt ihn, auf welche Weise sie
die grausamste Rache an ihrer Feindin durch
deren Sohn nehmen könne.
Der Zauberer
rät ihr, das Kind an einen Ort zu führen,
den er ihr nennt, und er verspricht ihr eine
schreckliche Rache. Die böse Frau folgt
diesem Rat, lässt aber das Kind nicht aus
den Augen.
Zu ihrer großen
Überraschung sieht sie, wie das Kind von
einem reichen Mann ohne Erben zu sich genommen
wird. Sie kehrt zu dem Zauberer zurück
und überhäuft diesen mit Vorwürfen.
Er aber antwortet, die Zeit sei noch nicht gekommen,
und sie müsse warten.
Doch das Kind
wächst auf in Luxus und Überfluss.
Die böse Frau ist erstaunt, doch der Zauberer
wiederholt ihr, sie solle warten. Und wirklich
kommt eine Zeit, wo ihre Rache so furchtbar
sich zeigt, dass selbst sie das Opfer beklagt.
Der im Reichtum
aufgewachsene junge Mann richtet sich bald zu
Grunde, und nun beginnt eine Reihe von Entbehrungen
und physischen Leiden, für welche er besonders
empfindlich, gegen die er aber hilflos ist.
Einerseits ziehen
ihn edle Regungen nach einem geregelten Leben
hin, andererseits fühlt er die Machtlosigkeit
seines durch Luxus und Müßiggang
entnervten, geschwächten und verweichlichten
Körpers. Es ist ein unaufhörlicher,
hoffnungsloser Kampf. Dann kommt die Trunksucht,
als Mittel, um zu vergessen, dann das Verbrechen,
der Wahnsinn und endlich der Selbstmord."
|
So setzt unsere Erziehung heute weichliche Gewohnheiten
in die Kinderseele. anstatt die Kinder zu lehren,
wie man seine Neigungen beherrschen kann. Dadurch
gewöhnt sich der Mensch an Müßiggang
und Verschwendung und lernt nie, seine Arbeit zu lieben,
vielmehr schätzt er jede Produktivität gering
ein. Die erste Tugend, die Sittsamkeit geht dem Menschen
so völlig verloren.
So vorbereitet tritt
der junge Mensch ins Leben. Es scheint, dass hier
Gerechtigkeit, christliche Liebe und Wohltätigkeit
hochgeschätzt und geachtet werden, wenn man den
Predigten und Reden trauen darf. Aber dass hier nur
scheinbare Moralität anklingt und dass die Lüge
das Grundgesetz der Gesellschaft ist, das durchschauen
nur diejenigen, deren moralisches Gefühl noch
nicht abgestumpft ist. Die anderen die sich mit den
Zustanden abfinden. können ruhig und glücklich
leben.
Immer häufiger
kommt es vor, dass Menschen sich nach den Grundsätzen
der wahren Moral fragen und in ihnen entbrennt ein
innerer Kampf, weil sie Anspruch und Wirklichkeit
so weit auseinanderklaffen sehen.
Der Mensch fühlt
in seinem Innersten, dass etwas falsch läuft
und dass das Leben gründlich geändert werden
müsste.
Wenn er es aber versucht und auch nur irgendetwas
verändert in seiner Lebensweise, dann
stehen all die anderen, die in ihrer Jugend
ein ähnliches Gefühl verspürten und
dann im Kampf um eine Änderung unterlagen, all
jene stehen auf und setzen all ihre Möglichkeiten
ein, um jenen zu überzeugen, dass
weder Reinheit noch Entsagung im Leben notwendig seien,
um gut zu sein und dass man auch in Luxus und
Unmäßigkeit, in Müßiggang ja
sogar im Laster ein absolut gerechter und nützlicher
Mensch sein könne.
Entweder gibt jener
Einzelne auf und schließt sich seinen vermeintlichen
Freunden an, betäubt sein Gewissen oder sucht
sich mit Ausreden zu rechtfertigen, er werde schon
alles wieder gutmachen. Dabei helfen ihm die Lehren
von der erlösenden Wirkung der Sakramente oder
die Verehrung und die Tätigkeiten im Dienste
der Wissenschaft, der Kunst und des Vaterlandes. Gibt
er aber nicht auf und hält an seiner inneren
Stimme fest, so verfällt
er über kurz oder lang dem Wahnsinn und begeht
nicht selten Selbstmord.
Ganz selten aber geht
diesem suchenden Menschen auf, daß es für
alle moralischen Menschen eine Ur-Wahrheit gibt, die
es schon vor tausenden von Jahren gab:
daß man nämlich bevor man irgendeine Vervollkommnung
des Charakters anstreben kann, erst die Tugend der
Enthaltsamkeit und der Selbstbeherrschung lernen muss.
Diese werden bei allen alten Philosophen gelehrt.
Die Christen fanden dafür den Begriff der Selbstverleugnung,
der im Grunde dasselbe meint.
Im Menschen ruht eine natürliche Neigung für
gute Sitten und edle Taten, aber es fehlt ihm in der
jetzigen Gesellschaft an der dazugehörigen Mäßigkeit.
Das heute übliche verweichlichte Leben, eine
übermäßige fette Nahrung, ständige
Vergnügungen und Ausschweifungen verhindern ein
moralisches Dasein.
Und wenn der Mensch
merkt, dass er keine moralischen Fortschritte macht,
dann wird er pessimistisch und sagt: "Das ist
eine tragische Situation des Menschen."
Manche Menschen sehen, dass die Verteilung der Güter
ungleich ist. Sie wollen diese Ungleichheit abschaffen,
hören aber dabei nicht auf, selber nach dauernden
Vergnügungen zu jagen. So gleichen sie Leuten,
die als erste in einen Obstgarten kommen und schnell
alle Früchte pflücken, sich aber wünschen,
dass alle Früchte gerecht verteilt werden, obwohl
sie sich selbst aller Früchte bemächtigen.
Was
ist Gerechtigkeit?
"Der Irrtum,
von dem wir sprechen, ist so unbegreiflich, dass ich
überzeugt bin, die kommenden Generationen werden
nicht begreifen, was die Männer unserer Zeit
unter einem 'moralischen Leben' verstanden, wenn sie
sagten, dass der Fresser, der Entnervte, der Ausschweifende,
der Müßiggänger unserer reichen Klassen
ein moralisches Leben führen."
Es ist richtig, dass
man nur die Anschauungsweise der reichen Klasse aufzugeben
braucht, und das Leben vom Standpunkt der Gerechtigkeit
aus betrachten muss, um zu sehen, wie sehr das Leben
der Reichen den einfachsten und ursprünglichsten
Grundsätzen der Gerechtigkeit widerspricht. Nicht
einmal Kinder in ihren Spielen würden solche
groben Ungerechtigkeiten gelten lassen.
In unseren Kreisen
aber wird oft von einer gerechten Handlungsweise,
die dem üblichen Verhalten nicht entspricht,
als Prahlerei gesprochen, nur um die allgemein übliche
unmoralische Handlungsweise nicht infrage stellen
zu lassen. Wäre aber unser Leben immer gerecht,
so wäre jede Handlung notwendigerweise auch gerecht,
und sie würde den normalen Ablauf des täglichen
Lebens nicht stören.
Die Moralität
des Lebens kann nur durch das Verhältnis von
Egoismus und Altruismus definiert werden. Je weniger
man sich selbst wichtig nimmt, desto weniger verlangt
man, dass andere sich um einen sorgen, und je mehr
man sich um andere kümmert, desto mehr arbeitet
man auch für das Wohl der anderen und desto moralischer
ist das Leben.
Alle wahren Menschen
stimmen in dieser Auffassung überein, dass je
mehr der Mensch anderen gibt und je weniger er für
sich verlangt, er desto näher der Vollkommenheit
steht. Je weniger er aber anderen gibt und je mehr
er für sich selbst verlangt, desto weiter ist
er von der Vollkommenheit entfernt.
In unserer heutigen
Gesellschaft aber ist es so: anstatt anderen zu essen
zu geben, isst der Mensch lieber den Überschuss
auf. Dadurch vermindert er nicht nur die Möglichkeit,
den Überschuss wegzugeben, son-dern weil er sich
überfüllt, hat er nicht mehr die Möglichkeit
an andere zu denken.
Wir glauben von uns
und überreden uns, dass wir andere lieben, aber
das ist nur in Worten nicht aber in Taten der Fall.
So kann der verweichlichte und an Luxus gewöhnte
Mensch kein echt moralischer Mensch sein, auch wenn
er die Fähigkeiten dazu hätte, wie ja auch
ein Messer von bester Qualität nicht schneiden
kann, wenn es nicht geschärft wurde. Gut zu sein,
und guten Sitten zu haben heißt: dem anderen
Menschen mehr zu geben als man selbst empfängt.
Der an Luxus gewöhnte Mensch kann das nicht tun,
schon deshalb nicht, weil er zahlreiche Bedürfnisse
hat, die erst befriedigt sein wollen, ehe er an andere
denken kann.
"Ich
kann mir nicht versagen, immer dasselbe zu wiederholen
ungeachtet des
kalten, feindlichen Schweigens, mit dem diese Worte
aufgenommen werden"
Ein moralischer Mensch,
der alle Bequemlichkeiten genießt, oder selbst
ein Mensch der mittleren Klasse, kann nicht ruhig
leben bei dem Gedanken, dass alles, was er genießt,
die Frucht der Arbeit von ganzen Generationen von
Arbeitern ist, welche, erdrückt durch die Last
des Daseins, ohne Berechnung, in Unwissenheit, Trunkenheit,
Ausschweifung, halb wild leben und in den Fabriken
oder am Pflug sich abmühen, um die Gegenstände
zu produzieren, welche dem Menschen der höheren
Stände dienen. Ich, der ich das schreibe, und
der Leser, der es liest, wer er auch sein mag, Ihr
wie ich, wir haben genügend, oft überreiche
Nahrung, reine Luft , Winter- und Sommerkleidung,
alle Arten von Vergnügungen und besonders Muße
bei Tag und vollständige Ruhe bei Nacht. Neben
uns aber lebt das Arbeitervolk, dem Nahrung und gesunde
Wohnung, genügend Kleidung und Zerstreuungen
fehlen und welches nach der Arbeit wieder keine Mußestunden
und auch nachts keine Ruhe hat : Greise, Kinder, Frauen,
welche alle von der Arbeit, von schlaflosen Nächten,
von Krankheiten erschöpft sind, und welche ihr
ganzes Leben lang für uns arbeiten, um immer
denselben Gegenstand der Bequemlichkeit und des Luxus
herzustellen, den sie nicht besitzen und der uns nur
überflüssig und unnötig ist.
Darum muss auch ein
guter Mensch, ein Menschenfreund oder ganz einfach
ein Freund der Gerechtigkeit den Wunsch empfinden,
sein Leben zu ändern und aufzuhören, sich
der Luxusgegenstände zu bedienen, die Arbeiter
unter solchen Umständen hervorgebracht haben.
Wenn der Mensch wirklich
Mitleiden mit denjenigen seiner Mitmenschen hat, welche
den Tabak produzieren, so wäre das erste für
ihn, das Rauchen aufzugeben, denn indem er damit fortfährt,
ermutigt er die Produktion des Tabaks und schädigt
seine Gesundheit."
Tolstoi geißelt
das Argument, man müsse dem Arbeiter doch Arbeit
geben, schon dadurch erhalte
die Herstellung selbst unnützer Dinge einen Sinn.
Als ob es keine andere Arbeit auf der Welt gäbe,
als die Herstellung nutzloser oder schädlicher
Gegenstände!
Und diejenigen, die
so genannte Dienstleistungen erbringen, Beamte und
Angestellte, dann Priester, Landwirte, Fabrikanten,
Kaufleute, sie alle sind auf die Arbeit der Arbeiter
angewiesen. Sie tun zwar ihren Dienst beim Staat,
bei der Kirche, bei der Wissenschaft, bei der Kunst
und sind auch überzeugt, dass sie dem Menschen
soviel geben, wie sie vergütet bekommen.
Sieht man aber genauer hin, so stellt man fest, dass
sie nicht nach dem vergütet werden, was sie leisten,
sondern dass man ihre Leistung nach dem einstuft,
was sie an Lohn bekommen. Sie
sind dem Arbeiter mit ihrem Tun nicht im mindesten
dienlich, sondern sie profitieren nur
von der Arbeitsleistung der Arbeiter, weil sie nichts
anderes können, als sie tun, und an ihrem Tun
doch soviel Gefallen gefunden haben, dass sie es nicht
mehr lassen wollen.
"Alles das kommt daher, weil die Menschen glauben,
man könne ein moralisches Leben führen,
ohne die zu einem solchen Leben nötigen Eigenschaften
erworben zu haben.
Die erste dieser Eigenschaften ist die Enthaltsamkeit."
Am
Anfang allen Glücks steht die Enthaltsamkeit
Ohne die Enthaltsamkeit
kann man nicht moralisch leben. Doch wird diese Tugend
nicht auf Anhieb erreicht. Sie muss stufenweise erarbeitet
werden.
Enthaltsamkeit ist die Befreiung von unreinen Begierden.
Das Ziel ist ein Leben in Mäßigung. Der
Mensch besitzt zahlreiche Leidenschaften. Um diese
mit Erfolg bekämpfen zu können, muss er
die allen zugrunde-liegende Leidenschaft zuerst bekämpfen.
Bekämpft er zuerst ein Laster, das die Folge
anderer Laster ist, so kämpft er ohne Aussicht
auf Erfolg.
Es gibt kompliziertere
Leidenschaften wie die Putzsucht, das Spiel, Vergnügungen,
Neugierde; und es gibt ursprüngliche Leidenschaften
wie die Gefräßigkeit, den Müßiggang
und die Unzucht.
"Im Kampf gegen die Leidenschaften muss man nicht
mit dem Ende anfangen, sondern man muss mit denen
beginnen. welche die Quelle der anderen sind und auch
dann in einer bestimmten Reihenfolge, nach der Natur
dieser Leidenschaften selbst und nach der Tradition
der Weisheit.
Der gefräßige
Mensch ist unfähig, gegen die Faulheit zu kämpfen,
und der, welcher müßig und gefräßig
zu gleicher Zeit ist, wird niemals die Kraft haben,
andere Leidenschaften zu bekämpfen. Darum muss
nach allen Lehren das Streben nach der Enthaltsamkeit
mit dem Kampf gegen die Gefräßigkeit beginnen,
also mit dem Fasten.
In unserer Gesellschaft ist diese erste Tugend, die
Enthaltsamkeit, vollkommen vergessen, ebenso wie die
notwendige Stufenfolge zur Erlangung dieser Tugend.
Das Fasten hat man gänzlich aufgegeben, man betrachtet
es als einen dummen und ganz unnützen Aberglauben.
Aber ebenso wie die
erste Vorbedingung eines moralischen Lebens die Enthaltsamkeit
ist, so ist auch die erste Vorbedingung der Enthaltsamkeit
das Fasten.
Man kann wünschen,
gut zu sein, man kann danach streben, das Gute zu
tun, ohne zu fasten, aber in Wirklichkeit ist es ebenso
unmöglich, als zu gehen ohne aufzustehen.
Die Feinschmeckerei dagegen ist das erste Anzeichen
eines ausschweifenden Lebens, und leider ist dieses
Anzeichen den meisten Menschen unserer Zeit im höchsten
Grad eigen. Man betrachte die Gesichter und Körper
der Leute unserer Gesellschaft und unserer Zeit, alle
diese Gesichter mit Doppelkinn und hängenden
Wangen, mit zu dicken Gliedern und hervorstehendem
Unterleib sprechen laut von einem Leben voll Ausschweifung.
Und wie sollte dies anders sein?
Man frage, was der
hauptsächliche Beweggrund ihres Lebens ist, und
so seltsam uns das erscheinen mag, die wir gewohnt
sind, unsere wahren Interessen zu verbergen und so
gern wir Winkelzüge anwenden -
die hauptsächliche Triebfeder der meisten Menschen
unserer Gesellschaft und unserer Zeit - ist die Befriedigung
des Gaumens, die Lust zu essen, die
Gefräßigkeit. Von den Ärmsten bis
zu den Reichsten ist die Gefräßigkeit,
glaube ich, das hauptsächlichste, größte
Vergnügen unseres Lebens.
Das arbeitende Volk
macht nur insoweit eine Ausnahme, als die Not es verhindert,
sich dieser Leidenschaft voll hinzugeben. Sobald es
aber Zeit und Mittel hat, wie die gehobene Klasse
wird es sich die angenehmsten Speisen verschaffen
und essen und trinken, soviel es kann."
Tolstoi beschreibt
den Sinn des Lebens für den normalen Menschen
unserer Zeit. Je mehr man essen kann, desto mehr hält
man sich für glücklich, für stark und
auch für gesund. Und selbst die so genannten
Gebildeten bestärken die so genannten Ungebildeten
in dieser Überzeugung.
Hört man die
Gespräche der höheren Klasse, für welche
Themen sie sich interessiert: Philosophie, Wissenschaft,
Kunst und Poesie und die Frage der Verteilung der
Reichtümer, darüber hinaus das Wohl des
Volkes und die Erziehung der Jugend. In Wahrheit aber
ist das meiste nur Heuchelei. Sie denken nur wenig
über diese Themen nach. Was Frauen und Männer
wirklich interessiert, ist das Essen. Wie wird man
essen? Was? Wann und wo?
Es gibt keine Feierlichkeiten,
keine Feste, keine Einweihungen ohne Festessen. Es
gibt keine Reisen, keine Besuche von Museen, Bibliotheken,
Parlamenten, ohne dass die Frage des Essens im Mittelpunkt
stünde.
Könnte man den
meisten Menschen auf den Grund ihrer Seele sehen,
um zu erfahren, was sie sich am meisten wünschen,
so würde man entdecken, dass dort der nie zu
stillende Appetit sitzt.
Und im Alltagsleben
äußert es sich so, dass das Hauptthema
aller Frauen aller Schichten, sich um die Zubereitung
des Essens dreht. Die reichen Leute sprechen nur deshalb
nicht dauernd von diesem Thema, weil sie dafür
ihre Leute haben, die dafür sorgen, und nicht
etwa, weil es für sie Wichtigeres im Leben gäbe.
Aus welchem Anlass
auch die Menschen immer zusammenkommen, ob zu einer
Taufe, einer Hochzeit, einem Begräbnis, einer
Einweihung einer Kirche oder sonstigen Gebäudes,
einer Versammlung, einem Jahrestag, dem Geburts- oder
Todestag eines großen Gelehrten, Moralisten
oder Denkers, wo man glauben
sollte, dass höhere Interessen eine Rolle spielen,
immer ist das alles nur ein Vorwand. Alle wissen,
dass man wieder einmal gut speisen und trinken wird,
und das führt sie zusammen.
Schon mehrer Tage vor dem Fest werden Tiere geschlachtet,
man bringt Körbe von Nahrungsmitteln, Köche
und ihre Gehilfen werden zusammengerufen, ein Küchenchef
gibt seine Befehle, die Köche hacken, kneten,
waschen, zerteilen und richten alles auf das Originellste
an.
Die Gefräßigkeit
verdrängt so sehr den wirklichen Anlass, dass
zum Beispiel das Wort Hochzeit stärker das Fest
als die Eheschließung zweier Menschen assoziiert.
Das Volk sucht dieses Gefühl, der Freude am Essen
und Trinken wenigstens nicht zu verheimlichen, während
in den gehobenen Kreisen so getan wird, als wäre
das Essen zweitrangig. Setzt man aber gerade in diesen
Kreisen einmal ein einfaches Essen auf den Tisch,
dann wird man an den Äußerungen, die diesem
Ereignis folgen, sehen, wie stark die Gefräßigkeit
Hauptmotiv der Zusammenkunft war.
"Die Befriedigung
des Bedürfnisses hat Grenzen, aber das Vergnügen
nicht. Um den Magen zu befriedigen, genügt es,
Brot, Grütze oder Reis zu essen, während
man zum Vergnügen Saucen oder andere Zutaten
ohne Ende nötig hat."
Tolstoi
mokiert sich über Anschauung des Menschen,
was nahrhaft und gut zu essen sei:
"Das Brot
ist eine notwendige Nahrung, die ausreicht,
um Kraft zu geben. Dies beweisen die starken,
schlanken, gesunden, schwer arbeitenden Menschen,
die nur von Brot leben.
Aber es ist
besser, das Brot mit einem anderen Nahrungsmittel
zu essen, und es ist noch besser, es in einer
Fleischbrühe aufzuweichen.
Doch kann man
diese Nahrung noch verbessern, wenn man in die
Fleischbrühe Gemüse verschiedenster
Art hinein gibt.
Dann ist es
auch gut, Fleisch zu essen, doch nicht nur gekochtes
Fleisch, sondern besser in Butter gebratenes
Fleisch mit Senf und das alles dann mit Rotwein
zu begießen.
Man hat zwar
keinen Hunger mehr, aber man kann noch Fisch
mit Sauce essen und Weißwein dazu trinken.
Endlich, wenn
man keine fetten Speisen mehr essen kann, dann
genehmigt man sich aber doch noch das Dessert:
Im Frühjahr Eis, im Winter Kompott, Konfekt
und ähnliches.
Das ist noch
ein bescheidenes Diner. Das Vergnügen dieses
Mahls kann noch gesteigert werden, und das wird
auch meistens getan, wenn appetitanregende Zwischenspeisen
aller Art gereicht werden. Um schließlich
auch das Auge und das Ohr zu befriedigen, werden
Blumen und Schmuckstücke auf die Tafel
gestellt und lässt man Musik spielen.
Und sonderbarerweise
sind die Menschen, die sich tagtäglich
solche Mahlzeiten genehmigen, verglichen mit
denen das Fest des Belsazar - das eine göttliche
Drohung hervorgerufen hat - nichts ist, der
naiven Überzeugung, das sie bei alledem
ein moralisches Leben führen."
|
Mit Methode fasten
Für Tolstoi ist
das Fasten eine notwendige Vorbedingung für ein
moralisches Leben. Aber selbst wenn man dieser Überzeugung
ist, tut sich doch die Frage auf, wie man fasten soll.
Denn genauso wie man mit Methode arbeiten muss, wenn
man ein gutes Resultat erzielen will, so muss man
auch mit Methode fasten, wenn man erfolgreich sein
will. Aber er stellt fest, dass dieser Gedanke den
meisten Menschen lächerlich erscheint.
"Ich
erinnere mich, mit welchem Stolz ein Evangelischer,
der gegen das Klosterleben eiferte, mir sagte:
'Unser Christentum liegt nicht im Fasten und in Entbehrungen,
sondern im Beefsteak, allgemein gehen Christentum
und Tugend mit dem Beefsteak zusammen.'
Während der langen,
finsteren Zeit ohne alle heidnischen und christlichen
Führer sind in unser Leben so viele wilde, unmoralische
Begriffe eingedrungen, besonders auf dem niedrigen
Gebiet des ersten Schritts zum moralischen Leben -
in der Frage der Ernährung, welche von niemand
beachtet wurde - dass es uns sogar schwer fällt,
zu begreifen, welche Dreistigkeit und Torheit darin
liegt, in unserer Zeit von der Übereinstimmung
des Christentums und der Tugend mit dem Beefsteak
zu sprechen.
Man hat keinen Abscheu davor, weil
man sieht, ohne zu sehen, und
hört, ohne zu verstehen.
Es
gibt keinen so abscheulichen Geruch, an den der Mensch
sich nicht gewöhnte, es gibt kein Geräusch,
dem sein Ohr sich nicht anpasste und keine Abscheulichkeiten,
die man nicht endlich mit Gleichgültigkeit zu
betrachten lernte. So kommt es, dass man nicht
mehr bemerkt, was einem Menschen, der noch nicht daran
gewöhnt ist, auffällt. Ebenso ist es auf
moralischem Gebiet."
Hier
beweist Tolstoi an Hand eines eigenen Erlebnisses
wie die Gewohnheit den Menschen verrohen lässt.
"Ich habe
in letzter Zeit in der Stadt Tula die Schlachthäuser
besucht. Sie sind nach einem neuen vervollkommneten
Plan erbaut, wie in allen größeren
Städten, damit die Tiere so wenig wie möglich
zu leiden haben. Schon lange, seitdem ich das
hervorragende Buch ."Ethics of Diet"
gelesen hatte, wollte ich die Schlachthäuser
besuchen, um mich selbst durch den eigenen Augenschein
zu überzeugen, worum es sich eigentlich
handelt, wenn man von der fleischlosen Ernährung
spricht. Immer aber hatte ich ein Gefühl,
dass das Leid zwar vorhanden ist, dass man es
aber nicht verhindern kann. Deshalb verschob
ich immer wieder meinen Besuch.
Vor kurzem aber
begegnete ich auf der Straße einem Fleischer,
der sich nach Tula begab. Es war ein Hilfsarbeiter
und seine Arbeit bestand darin, die Tiere abzustechen.
Ich fragte ihn,
ob er die Tiere nicht bedauere, die er schlachten
sollte. 'Wieso bedauern?' fragte er. "Es
muss ja sein."
Als ich ihm
sagte, dass es keineswegs notwendig sei, Fleisch
zu essen, dass dies nur ein Luxus sei, da gestand
er mir, dass es in der Tat bedauerlich sei,
die Tiere zu schlachten. "Aber was soll
ich machen? Man muss doch leben. Anfangs fürchtete
ich mich auch, zu töten, mein Vater hat
in seinem Leben nie ein Huhn abgeschlachtet."
Tatsächlich
widerstrebt es den meisten Russen zu töten.
Sie haben Mitleid und drücken dieses Gefühl
durch das Wort 'fürchten' aus. Der junge
Mann fürchtete sich auch, aber das hörte
dann auf. Er sagte mir, das größte
Geschäft sei immer freitags, dann dauere
die Schlachterei bis zum Abend.
|
Neulich hatte
ich ein Gespräch mit einem Soldaten, der
Fleischer war. Auch dieser war sehr erstaunt
über meine Bemerkung, dass es doch bedauerlich
sei, zu töten. Auch er erwiderte, das sei
doch notwendig, gestand aber schließlich,
dass er es doch bedauerlich finde und fügte
hinzu: "Besonders wenn das Tier willig
und zahm ist, und das arme Ding so voll Vertrauen
geht, dann hat man großes Mitleid."
|
Tolstoi kann es nicht begreifen, dass der Mensch ohne
alle Notwendigkeit sein Gefühl der Teilnahme
und des Mitleids für andere Lebewesen zum Schweigen
gebracht hat und sich selbst solche Gewalt antut,
um grausam zu sein. Denn wie tief liegt im Herzen
des Menschen das Verbot, ein lebendes Wesen zu töten.
Ein anderes Erlebnis zeigt das innere Aufbäumen
selbst eines verrohten Menschen gegen die Barbarei
der Tierschlachterei:
Nun
folgt die Beschreibung
seines Besuches im Schlachthaus zu Tula
"An
einem Freitag begab ich mich nach Tula. Ich begegnete
einem guten, vernünftigen Menschen, der mir
bekannt war, und ich bat ihn, mich zu begleiten.
'Ja. ich habe gehört, das sei alles sehr
gut eingerichtet, und ich wollte es auch sehen,
aber wenn man heute schlachtet, gehe ich nicht
hin.'
Warum nicht? Das will ich ja eben sehen.
Wenn man Fleisch isst,
muss man auch sehen, wie man schlachtet.'
'Nein, nein, ich kann nicht', rief er.
Und dabei ist dieser Mensch ein Jäger und
tötet selbst. Er war nicht dazu zu bewegen. |
Wir
kamen ans Schlachthaus. Am Eingang bemerkte man
schon einen unangenehmen, widerlichen, fauligen
Geruch, wie nach Tierleichen. Je weiter wir kamen,
desto stärker wurde dieser Geruch. Das Schlacht-haus
war ein sehr großes, gewölbtes Backsteingebäude
mit hohen Schornsteinen. Wir traten durch die
große Pforte ein. Rechts war ein großer
Hof, mit einer Hecke umgeben, etwa 1/4 Hektar
groß. Das war der Ort, wo man an zwei Tagen
der Woche das verkaufte Vieh zusammen trieb. Am
Ende des Hofes befand sich das Häuschen des
Pförtners. Zur Linken standen zwei Schuppen
mit Spitzbogentüren, der Fußboden war
mit Asphalt bedeckt und bildete einen Eselsrücken.
Besondere Anstalten waren getroffen, um die getöteten
Tiere aufzuhängen.
Vor dem Wächterhaus zur Rechten saßen
auf einer Bank sechs Fleischer mit blutbefleckten
Schürzen, die gleichfalls blutigen Hemdsärmel
waren unten umgeschlagen und man konnte ihre muskulösen
Arme sehen. Seit einer halben Stunde war ihre
Arbeit beendet, so dass wir diesen Tag nur den
leeren Schuppen sehen konnten. Obgleich die Türen
von beiden Seiten offen waren, empfand man doch
einen faden Geruch nach warmem Blut. Der Fußboden
war ganz braun glänzend und in den Kanälen
des Fußbodens lag geronnenes Blut. |
Einer
der Fleischer erklärte uns, wie man schlachtet
und zeigte uns den Ort, wo das geschah. Ich habe
ihn nicht gut begriffen und machte mir eine falsche,
aber schreckliche Vorstellung vom Schlachten.
Ich glaubte, wie das oft vorkommt, dass die Wirklichkeit
einen weniger peinlichen Eindruck auf mich machen
werde als meine Phantasie. Aber das war ein Irrtum. |
Das nächste
Mal kam ich zur rechten Zeit ins Schlacht haus.
Es war an dem Freitag vor Pfingsten, an einem
warmen Junitag. Der Geruch nach Leim und nach
Blut war stärker als beim ersten Besuch.
Die Arbeit war in vollem Gange. Der kleine staubige
Hof stand voll von Tieren und auch in dem Schuppen
nahe dem Schlachthaus befanden sich andere Tiere.
Auf der Straße
standen Karren, an welchen Ochsen, Kälber,
Kühe angebunden waren.
Gut bespannte
Wagen, auf welchen lebende Kälber lagen
mit herabhängendem Kopf, kamen näher
und wurden abgeladen. Andere Wagen mit geschlachteten
Ochsen, deren Beine in die Höhe standen
und den Bewegungen des Wagens folgten, mit ihren
regungslosen Köpfen, roter Lunge und brauner
Leber kamen aus dem Schlachthaus heraus. Bei
der Hecke standen die Reitpferde, welche den
Viehhändlern gehörten. Diese gingen,
in ihren langen Röcken mit der Peitsche
in der Hand, im Hof hin und her und bezeichneten
mit Teer die ihnen gehörenden Tiere. Sie
handelten über die Preise und überwachten
den Transport der Tiere vom Park in den Schuppen
und vom Schuppen in das Schlachthaus.
Alle waren sichtlich
mit Geldfragen beschäftigt, und der Gedanke,
ob es gut oder böse sei, diese Tiere zu
töten, lag ihnen so fern, als der an die
chemische Zusammensetzung des Blutes, das auf
dem Boden umherlief.
Man bemerkte
keine Schlächter auf dem Hof. Sie waren
alle an der Arbeit. An diesem Tag wurden etwa
hundert Ochsen geschlachtet. Ich trat in das
Schlachthaus und blieb an der Tür stehen.
Dort blieb ich, weil das Innere sehr beengt
war, wegen der Tiere, die man hereinführte,
und auch, weil das Blut von oben herabtropfte
und alle Schlächter bespritzte, die sich
dort befanden. Wenn ich eingetreten wäre,
so wäre ich auch damit bespritzt worden.
Ein Tier wurde
vom Haken herabgenommen, ein anderes wurde auf
den Schienen fortgeschoben, ein drittes, ein
geschlachteter Ochse, lag mit den Beinen in
die Höhe auf dem Fußboden, und der
Schlachter zog die Haut ab.
Durch die Tür,
gegenüber der, an der ich mich befand,
führte man einen großen fetten Ochsen
herein. Zwei Männer zogen ihn herein.
Er hatte kaum
die Schwelle überschritten, als einer der
Schlächter mit einer Axt mit einem langen
Stiel den Ochsen über dem Hals traf. Als
ob seine vier Füße zu gleicher Zeit
abgeschnitten worden wären, fiel der Ochse
schwerfällig auf den Bauch, dann drehte
er sich sogleich auf die Seite und zuckte krampfhaft
mit den Beinen und an den Hüften. Dann
stürzte sich ein Schlächter auf ihn,
indem er vorsichtig die Beine vermied, ergriff
ihn an den Hörnern, drückte gewaltsam
seinen Kopf zu Boden, während ein anderer
Schlächter ihm die Kehle abschnitt. Aus
der klaffenden Wunde floss das dunkelrote Blut
wie ein Springbrunnen.
Dieses wurde
in einem Metallgefäß von einem ganz
mit Blut bedeckten Knaben aufgefangen. Während
der ganzen Zeit hatte der Ochse sich beständig
gedreht und den Kopf geschüttelt und krampfhaft
mit den Beinen um sich geschlagen. Indessen
füllte sich das Gefäß rasch
mit Blut, aber der Ochse war noch lebendig und
schlug mit den Beinen um sich, so dass die Schlächter
sich vorsichtig beiseite hielten. Sobald aber
das Metallgefäß voll war, stellte
es der kleine Junge auf den Kopf und trug es
in die Albuminfabrik, während ein anderer
Knabe ein neues Gefäß herbeibrachte,
das sich auch sehr rasch füllte. Aber der
Ochse schlug immer verzweifelter um sich.
Sobald das Blut
zu fließen aufhörte, hob der Schlächter
den Kopf des Ochsen auf und begann, die Haut
abzuziehen. Das Tier schlug noch immer um sich.
Der Kopf war ganz entblößt und ganz
rot mit weißen Adern und nahm die Stellung
an, die ihm die Schlächter gaben. Die Haut
hing von beiden Seiten herab. Der Ochse schlug
beständig um sich. Dann ergriff ein anderer
Schlächter den Ochsen am Bein, zerbrach
es und schnitt es ab. Auf dem Bauch liegend
dauerten noch die krampfartigen Zuckungen an.
Dann schnitt
man ihm die übrigen Glieder ab und warf
sie alle auf einen Haufen, wo die Beine der
anderen Ochsen desselben Besitzers lagen.
Darauf zog man
das geschlachtete Tier zur Rolle und zog es
in die Höhe, dann erst gab das Tier kein
Lebenszeichen mehr von sich.
Das sah ich
von der Pforte aus an.
So sah ich auch
einen zweiten, einen dritten, einen vierten Ochsen
schlachten, und bei allen verfuhr man auf die
gleiche Weise. Immer sah ich den herabhängenden
Kopf mit der Zunge, in die sich die Zähne
einbissen, und das letzte Zucken. Ein Unterschied
trat nur ein, wenn der Schlächter nicht auf
den ersten Schlag die richtige Stelle traf, so
dass das Tier nicht gleich niederstürzte.
Es kam vor, dass der Schläger die Stelle
verfehlte, und der Ochse sich aufbäumte,
brüllte und sich blutüberströmt
den Händen der Schlächter zu entreißen
suchte. Dann zog man ihn unter den Balken man
schlug ihn nochmals, und er stürzte.
Ich ging durch
das Schlachthaus und näherte mich der gegenüberliegenden
Tür, durch die die Tiere hereinkamen. Hier
sah ich dasselbe nur näher und deutlicher.
Ich sah, was
ich vorher von der anderen Tür aus nicht
sehen konnte, nämlich das Mittel, durch
das man die Tiere nötigte, hereinzukommen.
Wenn man einen
Ochsen im Schuppen ergriff und mit einem an
die Hörner gebundenen Strick hereinzog,
so wurde der Ochse zuweilen, wenn er das Blut
roch, störrisch, brüllte und drängte
rückwärts. Zwei Männer hätten
ihn nicht mit Gewalt hereinziehen können.
Deshalb trat einer der Schlächter näher,
ergriff den Schwanz des Ochsen und drehte ihn,
bis er ihm den Knorpel brach, dann ging das
Tier vorwärts. Die Prozedur wurde wiederholt,
bis es an dem Platz stand, wo es getötet
werden sollte. Immer, wenn das Tier nicht gehorchte,
griff der Schlächter nach dem Schwanz,
wie ein Maschinist nach der Kurbel der Maschine.
Als das Schlachten
der Ochsen eines Besitzers zu Ende war, begann
man mit derselben Arbeit für einen anderen.
So verfuhr man - erzählte der Dichter -
mit einem zweiten, dritten, vierten Ochsen.
Bei allen dasselbe grausige Schauspiel. "Immer
sah ich den herabhängenden Kopf mit der
Zunge, in welche die Zähne sich einbissen.
Wurde die rechte Stelle nicht gleich getroffen,
so bäumte sich der Ochse auf, brüllte
furchtbar und suchte sich, blutüberströmt,
seinen Peinigern zu entziehen. Dann kam die
Prozedur des Schwanzdrehens, wodurch der Ochse
unter den Balken getrieben wurde, um dort den
Axthieb zu empfangen.
Das erste Tier
einer neuen Herde war ein junger starker Stier
mit weißen Flecken und ganz weißen
Beinen, ein junges, kräftiges wildes Tier.
Man zog den Strick, er aber senkte den Kopf
und blieb hartnäckig stehen. Aber der Schlächter,
der hinter ihm ging, ergriff wie ein Maschinist,
der nach dem Handgriff des Blasebalgs greift,
den Schwanz, drehte ihn, der Knorpel krachte,
und der Stier stürzte vorwärts und
warf die Leute, die ihn am Strick hielten, zu
Boden.
Dann blieb er
wieder stehen, blickte zur Seite mit seinen
feurigen schwarzen Augen, aber wieder krachte
der Schwanz und der Stier stürzte vorwärts.
Dieses Mal befand er sich an der richtigen Stelle.
Der Schläger
näherte sich, zielte und schlug. Der Schlag
traf schlecht. Der Stier machte einen Satz,
schüttelte heftig den Kopf, brüllte,
riss sich ganz blutend los und stürzte
nach rückwärts. Alle, die sich an
der Tür befanden, liefen rasch zur Seite.
Aber die Schlächter
waren daran gewöhnt. Mit der durch die
Gefahr erworbenen Bravour ergriffen sie rasch
den Strick, dann wurde der Schweif wieder gedreht,
und von neuem stand der Stier im Schlachthaus.
Man zog den Kopf unter den Querbalken, so dass
es ihm nicht möglich war zu entfliehen.
Der Schläger zielte rasch auf die Stelle,
wo die Haare sich strahlenförmig trennten,
und trotz des Blutes traf er sie, und das schöne,
lebensvolle Tier stürzte nieder, schlug
mit dem Kopf und den Beinen um sich, während
man das Blut auffing und ihm die Haut abzog.
Ach, zum
Teufel, er ist nicht einmal da gefallen wo er
sollte!' brummte der Fleischer, indem er die
Kopfhaut abschnitt.
Fünf Minuten
später war der schwarze Kopf rot, ohne
Haut, die Augen verglast; dieselben Augen, die
vor kaum fünf Minuten in so schöner
Farbe glänzten.
Dann begab ich mich an den Ort, wo man die kleinen
Tiere schlachtete. Das war ein sehr großer
Raum, dessen Fußboden mit Asphalt bedeckt
war, darin standen Tische mit Randleisten, auf
welchen man Lämmer und Kälber schlachtete.
Die Arbeit war hier in dem langen Raum voll
Blutgeruch beendigt, nur zwei Schlächter
befanden sich hier. Der eine blies das Bein
eines geschlachteten Lammes auf und rieb mit
der Hand den aufgetriebenen Bauch des Tieres,
der andere, ein junger Bursche, saß mit
blutbefleckter Schürze und rauchte eine
Zigarette.
Ein Mann trat
hinter mir ein, der aussah wie ein verabschiedeter
Soldat, und brachte ein großes eintägiges
schwarzes Lamm mit, mit einem Zeichen am Hals
und zusammengebundenen Beinen und legte es auf
einen Tisch wie auf ein Bett. Der Soldat war
augenscheinlich an diesem Ort bekannt und sagte:
'Guten Tag!' dann begann er ein Gespräch
über einen Urlaub, den er vom Meister erbitten
wollte. Der junge Bursche mit der Zigarette
trat näher, mit dem Messer in der Hand,
wetzte es am Ende der Schlachtbank und bemerkte,
man habe Urlaub an den Ferientagen. Das lebende
Lamm blieb ebenso unbeweglich wie das tote,
aufgeblasen, nur mit dem Unterschied, dass es
lebhaft seinen kurzen Schweif bewegte und die
Flanken sich rascher hoben als gewöhnlich.
Der Soldat stützte ohne Anstrengung den
Kopf des Tieres gegen den Tisch. Der junge Schlächter
ergriff, während er sprach, mit der linken
Hand den Kopf des Lammes und schnitt ihm die
Kehle durch.
Das Lamm warf
sich hin und her, sein kleiner Schweif wurde
steif und hörte endlich auf, sich zu bewegen.
Während das Blut ausfloss, zündete
der Schlächter seine Zigarette wieder an.
Das Blut floss, und das Lamm warf sich wieder
hin und her. Inzwischen wurde das Gespräch
ohne Unterbrechung fortgesetzt."
Noch vieles
erzählt Tolstoi vom Schlachten anderer
Tiere, von der Gleichgültigkeit und der
Rohheit der Menschen beim Schlachten. Es schien
in ihnen alles Gefühl für das Mitleid
gestorben zu sein oder zumindest war es durch
die ewige Gewohnheit verstummt.
Einige junge
Burschen hielten die Zigarre in der Hand, während
sie mit dem Messer an das zu schlachtende Lamm
traten, alsdann unterhielten sie sich beim Schlachten
des Tieres.
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"Was will ich beweisen?" fragt
Tolstoi,
"Vielleicht, dass die Menschen, um gut zu werden,
das Fleischessen aufgeben müssen?
Keineswegs.
Ich will nur zeigen, dass es notwendig ist, nach und
nach die nötigen Eigenschaften zu erwerben, wenn
man zu einem moralischen Leben gelangen will,
und dass diejenige
Tugend, die man vor allen anderen erlangen muss, die
Mäßigkeit ist, und der Wille, seine Leidenschaften
zu beherrschen.
Beim Streben nach
der Enthaltsamkeit muss der Mensch notwendigerweise
eine gewisse bestimmte Ordnung befolgen und in dieser
Ordnung ist die erste Tugend - Mäßigkeit
in der Nahrung, das heißt ein relatives Fasten.
Und wenn der Mensch ernst und aufrichtig den moralischen
Weg sucht, so ist das erste, was er aufgeben muss,
die Fleischnahrung, denn außer der Aufregung
der Leidenschaften infolge dieser Nahrung, ist sie
auch ganz einfach unmoralisch, weil sie eine dem Gefühl
der Moralität widersprechende Tat - den Mord
- erfordert, und weil sie nur von der Feinschmeckerei
und der Gefräßigkeit verlangt wird."
Tolstoi zitiert nun
das englische Buch "The
Ethics of Diet" von Howard
Williams, das eine große Anzahl von
Biographien bedeutender Denker enthält und auch
auf deren Werke in Auszügen eingeht. Sie alle
traten gegen den Genuss von Fleischnahrung auf.
Für den heutigen
Menschen erstaunlich ist, dass durch die ganze Menschheitsgeschichte
hindurch die besten Vertreter der menschlichen Rasse
diese Ansicht vertraten.
Hier
wirft Tolstoi die Frage auf: Wenn den Menschen
die Immoralität und die Ungesetzlichkeit der
Fleischnahrung schon so lange bekannt ist, warum ist
die breite Öffentlichkeit bis heute nicht zu
dieser Erkenntnis gelangt.
Diese Frage stellen sich auch diejenigen, die sich
lieber nach der Meinung der Öffentlichkeit als
nach ihrer eigenen Vernunft richten.
Und er beantwortet die Frage folgendermaßen:
Jede moralische Bewegung, die die Grundlage jeden
echten Fortschritts ist, geht langsam voran. So ist
es denn auch bei der vegetarischen Bewegung. Diese
Bewegung kommt sowohl in den Schriften bedeutender
Denker zum Ausdruck als auch im lebendigen Beispiel
der einzelnen Menschen. Und es werden immer mehr,
die danach streben von der Fleischnahrung zur Pflanzennahrung
überzugehen.
Dieses Erlebnis im
Schlachthaus von Tula hat Tolstoi äußerst
sensibel gemacht für die Diskrepanz zwischen
dem menschlichen Fühlen und dem tierischen Leiden.
Und er geißelt das hypochondrische Getue
der feinen Damen, die sich nicht einmal die Mühe
machen auch nur zu überlegen, auf wie viel Leid
ihre Nahrung aufgebaut ist.
Ein anderes
Mal spricht Tolstoi von der Schlachtung kleiner
Haustiere. Und er beschreibt die grausige Komik,
wenn diese mit abgeschnittenem Kopf noch in
die Höhe springen und mit den Füssen
noch fast tanzende Bewegungen ausführen.
"Und die
Hennen und jungen Hühner, die zu Tausenden
jeden Tag in den Küchen mit abgeschnittenem
Kopf und mit Blut überströmt in die
Höhe springen und mit den Füßen
um sich schlagen mit schrecklicher Komik.
Und dennoch
isst die Dame mit dem empfindsamen Herzen diese
Geflügelleiche mit vollkommener Überzeugung
von ihrem Recht, indem sie zwei sich widersprechende
Meinungen ausspricht.
Die erste ist
die, sie sei so zart, wie der Arzt versichert,
dass sie eine ausschließliche Pflanzennahrung
nicht vertragen könne, und ihr schwacher
Organismus das Fleisch nötig habe; die
zweite Meinung ist die, sie sei so empfindsam,
dass es ihr unmöglich sei, selbst einem
Tier Leiden zu verursachen und sie könne
nicht einmal den Anblick dieser Leiden ertragen.
In Wirklichkeit
ist diese arme Dame eben deshalb schwach weil
man sie an Nahrung gewöhnt hat, welche
der menschlichen Natur widerspricht, und sie
kann nicht umhin, den Tieren Leiden zu verursachen,
aus dem einfachen Grund, weil sie sie aufisst."
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Wir müssen uns zu dem bekennen, was wir tun,
denn wir können nicht sagen, wir hätten
das alles nicht gewusst. Haben wir doch Verstand und
Kenntnis genug, um zu wissen woher unsere Nahrung
kommt.
Wenn es wenigstens nützlich wäre, Fleisch
zu essen! Aber der Fleischgenuss trägt nur dazu
bei, unsere tierischen Gefühle der Unmäßigkeit,
der Unzucht und der Trunkenheit anzustacheln. Besonders
junge Leute empfinden immer mehr, dass die "Tugend
nicht mit dem Beefsteak verliehen wird". So geben
sie sehr schnell die Fleischnahrung auf, wenn sie
sich einmal Rechenschaft abgelegt haben.
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